Die anarchistische Seite der Subkultur

In seinem Aufsatz «Entwicklung einer Anti-Pädagogik»[1] zitiert Gerhard Kern die Kritik des Pädagogen Heinrich Kupffer an den sich in den letzten Jahren häufenden, monothematischen politischen «Bewegungen» (in der Schweiz etwa die Grünen oder die Autopartei), die allesamt von einer «auf einige ausgewählte Angriffspunkte konzentrierte[n] Protesthaltung» ausgingen, deshalb «in der politischen Willensbildung» eine «Reduktion von Komplexität» herbeiführten und so «Gesinnung und Aktivität zur Deckung zu bringen» versuchten. Aus seiner Sicht kritisiert Kern diese Tendenz  als «das Hypostasieren von Ideen zu Göttern», die jeweils nach einem Aufschwung zur raschen «Sklerotisierung» von Bewegungen führe: «Spätestens da, wo ‘Bewegungen’ institutionalisiert werden, müssten sie sich auflösen und ihre Bestandteile Neuorientierung suchen. Aber es scheint menschliche Tragik, vielleicht auch natürliche, einen Weg in die Spezialisierung nicht mehr verlassen zu können.» (S. 132) Deshalb ist für Kern klar, dass sich auch institutionalisierte Erziehung spezialisieren muss, und zwar auf die «Verwirklichung des Machtanspruches von Führern, Priestern und Göttern» hin. (S. 123)

Meine strukturkritische «Subkultur»- Bestimmung, wonach die «subkulturelle Organisationsstruktur informell und deshalb instabil» sei, zielt in die gleiche Richtung. Nur in grösstmöglicher struktureller Instabilität kann Leben ohne spezialisierenden Fokus Thema des Prozesses bleiben. Wenn Kern in seinem Aufsatz die Frage nach einem neuen Menschenbild der Pädagogik aufwirft und fordert, «dass wir nie aufhören, Bilder zu zeichnen, also im permanenten Prozess bleiben, der keinen Anfang und kein Ende hat» (S. 133), so entspricht dies meiner ersten Bestimmung von «Subkultur», wonach ihr Aggregatszustand «Prozess, nicht Produkt» sei. Institutionelle Pädagogik ist so gesehen Produkt, nicht Prozess (der schulmeisterliche Idealismus möchte es bloss).

Ich denke, Antipädagogik ist ein anarchistisch inspiriertes Projekt. Dass «Subkultur» zu einem solchen Projekt Überschneidungen aufweist, scheint mir plausibel zu sein: Nur wo Strukturlosigkeit und Wertfreiheit zusammentreffen, kann Neues entstehen, das nicht die herrschende Ordnung der Gesellschaft voraussetzt, um überhaupt denkbar zu werden.

 [1] Ulrich Klemm [Hrsg.]: Quellen und Dokumente der Antipädagogik. Frankfurt am Main (dipa). 1992, S. 122-137.

(24.4.1997; 18.5.2006; 09.+15.12.2017; 13.07.2018)

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