Wir sitzen alle im gleichen Boot

Es gibt Zeiten – zum Beispiel in den fünfziger und sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts, zur hohen Zeit des Kalten Kriegs; zum Beispiel heute, nach dem Niedergang des real existierenden Sozialismus –, in denen öffentlich nicht zu vertreten ist, es sässen nicht alle im gleichen Boot. Damals wäre man als Landesverräter angegriffen worden, heute – nach dem Volks-Nein vom 6. Dezember 1992 zum EWR-Beitritt – würde man als politisch Verwirrter gelten (wer will das schon?).[1]

Dann gibt es aber auch Zeiten, in denen die Parole vom gleichen Boot nicht verfängt. In diesen Zeiten beginnt die Gesellschaft in Fraktionen der objektiven Interessenlagen auseinander zu triften. Unruhige Zeiten für den Courant normal des Herrschaftsalltags. Um diesen Zerfall aufzuhalten, attackieren jene, die es nicht nötig haben, im gleichen Boot zu sitzen, jene anderen, die öffentlich bestreiten, dass alle im gleichen Boot sässen. Die Profiteure mit Luxusjacht versuchen deshalb jeweils, die Kritiker in den Ruderbooten – so oder so oder so – auf andere Gedanken oder zum Schweigen zu bringen.

Jene, die nie im gleichen Boot sitzen werden, setzen durch, dass es öffentlich erneut unvertretbar ist zu sagen, dass nicht alle im gleichen Boot sässen. Und darum sitzen weiterhin alle im gleichen Boot, obschon die wenigsten je auch nur Seeanstoss haben werden.

[1] ] Bereits im März 1991 sagte die Schriftstellerin Mariella Mehr an der Pressekonferenz zur Flüchtlings-Demonstration vom 23. März 1991 in Bern: « Angebrochen […] ist erneut die Zeit des vollen Bootes, die Zeit der Fettwänste jeder politischen Couleur also, die Zeit der Verantwortungslosigkeit und des kollektiven Zynismus, der das Fremde, einmal zum Müll erklärt, aus dem angeblich vollen Boot zu kippen wagt, mitten in den Rachen anderer, nicht weniger feister Profiteure, nicht weniger zynischer Bootsbesitzer […].» (Christa Baumberger/Nina Debrunner [Hrsg.]: Mariella Mehr – Widerworte. Zürich (Limmat Verlag) 2017, S. 278)

(11.07.1993; 18.12.2001; 27.11.+02.12.2017)

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