Das Rauschen im Justistal

1.

Wenn man von Merligen am Thunersee durch den dahinterliegenden steilen Einschnitt bergauf geht, erreicht man nach einer guten Stunde die Grönhütte. Dahinter zieht sich, kaum merklich ansteigend, zwischen den mehrere hundert Meter hohen Felswällen von Sigriswiler- und Güggisgrat, ein geteerter Fahrweg kilometerweit ins Justistal hinein, das zuhinterst, zwischen Burst und Schibe, von einem sich regelmässig halbkreisförmig niederschwingenden Übergang begrenzt wird: der Sichle.

Einen Gang durch dieses Tal erlebte ich vor Jahren als Gang aus der Sprache hinaus in eine Welt, in der zwar alles Sagbare weiterhin sagbar ist, aber immer mehr an Bedeutung verliert. Sprache veränderte sich unmerklich zum Geräusch, nicht bedeutungsvoller als etwa das Rauschen des Grönbaches, als das Zwitschern der Vögel und das Flüstern des Windes in den Bäumen am Weg. Diese Welt war zwar nicht stumm. Aber das, was mir Sprache ist, ihre Bedeutungsebenen, die kognitive Differenzierungen und damit Erkenntnisse möglich macht, bleibt offenbar an soziale Räume gebunden. Ich erlebte sehr bewusst, dass Sprache ausserhalb ihrer zwischenmenschlichen, kommunikativen Funktion Geräusch ist.

Darüber hinaus: Je weiter der Weg aus der dichten Zeichenhaftigkeit des zivilisatorisch besetzten Unterlandes führte, desto mehr verstummte die Umgebung. Aufschriften, Plakate, Signale, Zeichen: Das ganze dichte Netz der von Menschen geschaffenen regelhaften Bedeutungen fiel weg; die Welt war nicht mehr von vornherein in administrativ steuernde Zeicheneinheiten zerlegt, ich musste hier Stummes zu deuten versuchen.

Ich nahm mir vor, über diesen plötzlichen, bewussten Blick auf die Fremdheit der Natur (der mich intuitiv zu semiologischen Fragestellungen geführt hat) einen Text zu schreiben. Der Text blieb ungeschrieben. «Justistal» bedeutet mir seit damals der Arbeitstitel und die Fragestellung dieses ungeschriebenen Textes.

(12.02.1991; 20.08.2017; 23.11.2017; 05.07.2018)

In meinem Notizbuch, das die Zeit von Dezember 1983 bis März 1986 abdeckt, finde ich einen undatierten Eintrag mit dem Titel «Justistal» ungefähr vom Juni 1985. Er lautet: «Über die Grenzen der eigenen Sprache (der kritischen, dialektischen, in – menschlichen – Widersprüchen argumentierenden Sprache) anhand eines Ganges durch – nahezu – reine Natur. Das Versiegen meiner Sprache: Sie ist nur dort, wo menschliche Widersprüche sind. Wozu Landschaftsbeschreibungen? Für Blinde und Lahme mit machtzynischer Pointe (Ich sag’s dir jetzt, weil du zu blöd bist, dir das selber anzugucken etc.) / Zentrum – Peripherie / Sprache dient im Justistal nicht zum gleichen wie in Zürich. Nicht die gleiche Sprache ist die nützliche Sprache. Politisierung? Abstraktion (i. S. von Ablösung von ‘Natur’).

Aber: ‘[…] Die Jugend sucht ihr Heil immer in Systemen – statt in der Natur.’ (Hohl II/248) vgl. auch II/249.»[1]

[1] Ludwig Hohl: Die Notizen. Frankfurt am Main (Suhrkamp Verlag) 1984, S. 161 (Nummern 248 und 249).

2.

Über «zerfallende und verhinderte Bedeutungen der Realität» habe ich 1985 nach einem Strandspaziergang in San Vincenzo geschrieben: «An den Rändern des öffentlichen Raums sterben Bedeutungen ab, zerfallen, werden unverständlich. Alles, was gegen die Ränder driftet, hat den fatalen Hang, immer wieder nichts mehr bedeuten zu wollen ausser sich selbst – dies aber ist unerträglich sinnlos.»[1]

Mit diesem Bild von den «Rändern» korrespondiert Ludwig Hohls optimistisches «Gesetz von den hereinbrechenden Rändern»[2] (das ich 1985 noch nicht gekannt habe): «Nicht vom Zentrum aus geschieht die Entwicklung, die Ränder brechen herein. […] Das menschliche Entdecken schreitet nicht so vor, dass man vom Allgemeinen, dem von allen Gesehenen, ‘Wichtigen’ aus endlich zu den Randbereichen, den Nuancen gelangte, wo dann allmählich Verblassen und Auslöschen einträte; sondern umgekehrt: zuerst wird ein Neues gesehen in den Randbezirken, an den zerfasernden Orten der Nebenerscheinungen.»

Die beiden Argumente lassen sich zusammendenken: An den Rändern sterben die Bedeutungen ab; gleichzeitig entsteht dort eine Zone des Bedeutungsfreien, in der ein «semiologisches Vakuum» herrscht. Dies ist der Raum, in dem unerkannt von den hegemonialen ideologischen Zwängen im Zentrum Neues aufbrechen kann.

Mich hat 1985 in San Vincenzo vor allem die Bedeutungsleere der Zeichen am Rand erschreckt: «Sparren eines Holzharrasses mit einer Eckleiste; eingelassene Hagraffen rosten braun fleckend im Holz / stabiles rundes Plastikgefäss mit teilweise zerschlagener Seitenwand, gelb mit rotem Aufdruck / blauer Haarwickler / […]» Et cetera.

Roland Barthes hat, mit gleicher Fragestellung aber anderem Blick den Strand betrachtet. Er fokussiert auf Dinge, die semiologisch rekonstruierbare Bedeutungen tragen: «Wieviele wirklich bedeutungsfreie Bereiche durchqueren wir im Verlaufe eines Tages? Sehr wenige, manchmal überhaupt keine. Ich befinde mich am Meer: gewiss enthält es keinerlei Botschaft. Aber auf dem Strand, welch semiologisches Material! Fahnen, Werbesprüche, Signale, Schilder, Kleidungen, alle stellen Botschaften für mich dar.»[3]

Aber was bedeutet ein blauer Haarwickler am Strand von San Vincenzo?

[1] Wie starb Dante Dallari?, WoZ Nr. 27-29/1985.

[2] Ludwig Hohl: Von den hereinbrechenden Rändern. Nachnotizen. Frankfurt/Main (Suhrkamp) 1986, S. 91-94.

[3] Roland Barthes: Mythen des Alltags. Frankfurt/Main (Suhrkamp), 1964, S. 90, Fussnote 3.

(12.02.1991; 24.11.2017; 05.07.2018)

 

3.

Was bloss ist, aber nichts bedeutet, ist leer. Welterkenntnis ist ein semiologisches Problem; Welterfindung eines des Glaubens.

(12.02.1991)

 

Nachtrag 1

Während meines NONkONFORM-Projektjahrs 1992/93 hatte ich eine zeitlang die Idee, den Text, den ich schliesslich über die Berner Subkultur schreiben würde, mit reflexiven Passagen zu durchsetzen, die nach dem einschlägigen Szenentreffpunkt in der Berner Altstadt während der fünfziger und sechziger Jahre «Café de Commerce» heissen sollten. Eines der entstandenen Stücke kann im vorliegenden Zusammenhang gelesen werden:

«Nachdem ich mir einen Café crème bestellt habe, geht mir durch den Kopf: Und wenn die Ränder gar nicht hereinbrechen würden? Nachdem der Schriftsteller Ludwig Hohl im März 1937 nach langem Aufenthalt in Holland in die Schweiz zurückgekehrt ist, schreibt er im Juni – als wollte er seiner Rückkehr in die Schweiz ein optimistisches Programm geben – ein Stück mit dem Titel ‘Von den hereinbrechenden Rändern’. Später bezeichnet er diesen Text als das ‘Grundstück’ für den Stoffkreis eines ganzen Buchs: jenem der ‘Nachnotizen’. Was Hohl in dieser Zeit in der Schweiz mitverfolgt, ist der entstehende Burgfrieden zwischen Arbeiterschaft und Bürgertum, ist die Instrumentalisierung der Literatur durch die Geistige Landesverteidigung des bedrohten Lands. Gefragt ist, wie es der damalige Bundesrat Philip Etter fordert, ‘der Glaube an unseren Staat, die Ehrfurcht vor unserem Staat, die Freude an unserem Staat’. Gegen diese Vereinnahmung durch den nationalstaatlichen Selbstbehauptungswillen stellt Hohl das Bild der ‘hereinbrechenden Ränder’, seine Metapher für eine revolutionäre Umwälzung durch Erkenntnisgewalt. ‘Nicht vom Zentrum aus geschieht die Entwicklung, die Ränder brechen herein’, postuliert er und begründet: ‘Die Mitte hat keine Kraft, sich zu erneuern.’ Deshalb wird das Neue zuerst «in den Randbezirken’ erkannt, ‘an den zerfasernden Orten der Nebenerscheinungen’. Erst allmählich, ‘langsamer oder rascher, oft unmerklich und bisweilen auch in einem gewaltigen Ruck, schieben sich diese Nuancen-Entdeckungen in den Tag hinein, mehr und mehr der Mitte zu, beherrschen endlich die Welt’. – Ein schönes Bild. Höchstens ein wenig unscharf. Denn was genau bricht herein? Ist es der randständig-reine Geist der Erkenntnis, der immer von neuem das Geistvakuum der Machtzentren flutet? Meint Hohl die Hoffnung auf eine säkulare, dafür ewige Pfingsten? Oder – ich bedanke mich beim Kellner für den Kaffee – hängt an diesem Geist noch der Mensch, der an zerfasernden Rändern das Neue erkennt, weiterträgt und verkündet? Wie kommt, was an den Rändern neu ist und wächst, ins Innere der Herrschaftsmaschine? Findet es, kein Mensch weiss warum, den Weg in die massenmedial aufgerüsteten Münder von routinierten Funktionären und Verwalterinnen des Wissenskanons? Ereignet sich hier eine Transsubstatiation; wie dort Wein zu Blut sich wandelt, wird hier Geld zu Geist? Oder kommt, in ungehobelter Art und diskursiv unbedarft, ohne Sinn für die akademischen Methodensubtilitäten ein Mensch daher von den Rändern der Gesellschaft und reklamiert Anerkennung für seine Erkenntnis und für sich selbst? Mit einem unscheinbaren Satz gibt Hohl dem reinen Geist Hand und Fuss: «‘Seht, da kommt der Träumer her. Morgen beherrscht er das Land’, schreibt er gegen Schluss seines Stücks. Also schwappt von den Rändern nicht Geist allein, brechen nicht einfach fleischlos Ideen herein, an ihnen hängen Träumer und Träumerinnen. Nicht von rein geistigen Prozessen ist die Rede: Die Menschen sind mitgedacht. Also ist Hohls Hoffnung, dass die Menschen mit den an den Rändern gewonnenen, neuen Erkenntnissen kraft dieser Erkenntnisse morgen das Land beherrschen werden. Eine schöne Hoffnung, höchstens ein wenig illusionär. Würden Menschen von den Rändern hereinbrechen, strömte nicht Geist, sondern Blut. Die längste Zeit jedoch wird die Renitenz an den Rändern gespalten, gebrochen, zerschlagen, zerrieben; fällt Brauchbares an, wird’s enteignet und der Mitte einverleibt als Tribut. Säuberlich werden die Bienen vom Honig getrennt: ausgeräuchert. Wer Honig isst, hat keinen Stachel zu fürchten. Die Ränder brechen nicht herein, sondern ab.»

(08.02.1993)

 

Nachtrag 2

Sprache als Münze, Spiegel und Geräusch. – Jetzt, drei Jahre nach dem Werkstück zum Justistal-Phänomen, gerate ich ins Grübeln über die Formulierung «…dass Sprache ausserhalb ihrer zwischenmenschlichen, kommunikativen Funktion Geräusch ist». Adorno hat die für mich zentrale Formulierung geprägt, die «Gefahr der Sprache» bestehe darin, «an ihr kommunikatives Element sich zu verlieren und ihren Wahrheitsgehalt zu verhökern». Und ich habe im «Konvolut» (Seite 187) daraus gefolgert, «dort, wo die sprache ‘wahr’ zu werden» beginne, sei, «wer spricht, vom kommunikativen tod bedroht». Und weiter: «dies hat das lyrische bemühen um ein eigenes – als das lyrisch wahre – in der sprache immer schon zur tendenziell selbstzerstörerischen unternehmung gemacht.» Die Frage lautet: Ist die Sprache, wenn sie nicht kommuniziert, sondern abbildet, Geräusch oder Wahrheit?

Offenbar gibt es zwei grundsätzlich verschiedene Formen des sprachlichen Nicht-Kommunizierens, eine gegen «innen» und eine gegen «aussen». Ich stelle mir vor: Die Welt des Sozialen ist ein nach innen unendlich vernetztes Universum, das die «Kultur» umschliesst und rundherum umgeben ist von Nicht-Kultur, also «Natur». Wenn ich auf der Grenze zwischen Kultur und Natur stehe und nach aussen blickend spreche, produziere ich sinnfreie Laute. Spreche ich nach innen blickend, habe ich zwei Möglichkeiten: Entweder ich kommuniziere, ich brauche die Wörter als Tauschmittel, als «Münze», als etwas, das seinen Sinn erst im Tausch erhält. Oder ich brauche sie als unveräusserliches Mittel zur Reflexion, als «Spiegel», als etwas, das unvereinnahmt zurückwirft, was (subjektiv) der Fall ist.

Adornos Argumentation wägt zwischen der Sprache als Münze und der Sprache als Spiegel ab; sein Blick ist nach innen gerichtet. Das Justistal-Phänomen ergibt sich jedoch dadurch, dass ich auf der Grenze zwischen Kultur und Natur stehend gegen aussen blicke und zu reden versuche: Jetzt wird Sprache zum Geräusch, gleichberechtigt neben dem Rauschen des Bergbachs. (Übrigens: Insofern ich in dieser Position zu verstehen suche, was ich höre, wird das Rauchen des Grönbachs umgekehrt zu einer Sprache).

(27.04.1994; 03.04.1998; 30.11.2017; 05.07.2018)

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