Ammenmärchen und Märchenonkel

1.

Als Kommunikationsmittel taugt Sprache ausschliesslich zur sozialen Verständigung. Sie taugt auch dazu nicht, wenn der Diskurs durch Machtverhältnisse verzerrt wird: Als Kommunikationsmittel entfaltet sich Sprache unverfälscht nur im «herrschaftsfreien Diskurs». Dessen Existenz jedoch ist ein Ammenmärchen. Im politischen Universum, das bis in die hintersten Winkel durch Machtverhältnisse geordnet ist, funktioniert Sprache im genauen Sinn des Worts als Schein: als Ideologie. Im politischen Universum ist keine nicht-ideologische Sprache denkbar. Die Sprache des politischen Universums überbaut die Machtverhältnisse – und lässt sie dadurch als sozial gerechtfertigt erscheinen. Es gibt deshalb keine nichtideologische politische Sprache: Jede verspricht Veränderung und jede tut das nur insofern, als die privilegierte Redeposition dem oder der Sprechenden weiterhin unverändert zugestanden wird.

Nur weil die Sprache der Kritik aus der Sicht jeder emanzipierten Bestrebung unverzichtbar notwendig ist als Mittel der Propaganda, ist sie deshalb noch nicht ideologiefrei: Es gibt auch Verblendungszusammenhänge, die die kritisch analysierende Position blenden. Die Sprache der Kritik fügt sich mit der Sprache der Herrschaft zusammen zum Ganzen der in sich antagonistischen hegemonialen Sprachwelt.

(24.4.1989; 30.11.2017)

2.

Bekämpfe nicht die Argumente des Gegners, sondern seine Interessen. Seine Argumente wende als Waffen gegen ihn selbst.

([Notizbuch 1989ff. S. 23-25], 24.04.1989)

3.

Es gibt im sozialen Raum – soweit die Sprache reicht – keine Wahrheit, die über den Interessen stehen würde. Die Summe aller Interessenlagen, die sich als aktuelles Machtverhältnis darstellt, ist die geltende Wahrheit. Jeder transzendierende Wahrheitsentwurf, der dagegen gestellt respektive darüber gebaut wird, ist zuerst einmal Ablenkung von dieser Tatsache (und insofern in der Tat Opium fürs Volk). Im sozialen Raum setzt sich nie eine irgendwie hergeleitete Wahrheit – nicht das durch Elaboration «wahrere» Argument durch, sondern immer ein Interesse, das heisst die Macht.

([Notizbuch 1989ff. S. 23-25], 24.04.1989; 27.+.30.2017)

4.

Sprache im sozialen Raum ist entweder Ideologie oder Geräusch. Ihre Funktion, Verständigungsmittel zu sein zwischen Menschen, ist zurückgedrängt auf die Räume des Privaten. Deshalb ist die Rede, die ich hier führe, nicht vorgesehen. Sie will das Private politisch machen, indem sie ausserhalb des sozialen Raums nichtprivat redet und weder Ideologie noch Geräusch sein will. Ich engagiere mich für die Hinüberrettung einer freieren Sprache. Darum treibe ich sie als Monolog vorwärts. Aber Hinüberrettung wohin?

 ([Notizbuch 1989ff. S. 23-25], 24.04.1989; 27.11.2017)

 

Nachtrag 1 ad. 1.

Diese Tatsache macht den rechtspopulistischen Volkstribun Christoph Blocher derart stark: Er erscheint seinem Fussvolk als ausserhalb des Ganzen des ideologischen Sprachkomplexes stehend, als Winkelried gegen die abgehobene, ignorantisch und hermetisch gewordene Welt der selbstgefälligen politischen und intellektuellen Schwadroniererei der «Classe politique». Was diese Welt nicht begreift: Dass es Blochers Fussvolk egal ist, wenn dieser als Wirtschaftsführer und neuerdings aktenkundiger Milliardär objektiv sein Klassenfeind ist. Zurzeit [1997, fl.] dominiert Blocher die Arena des innenpolitischen Diskurses: Wenn er sich zu Wort meldet, reservieren die Medien die prominentesten redaktionellen Gefässe, und regelmässig sieht sich die «Classe politique» genötigt, sich zu seinen Statements zu verhalten, und zwar ihr linker Teil so gut wie ihr bürgerlicher.

Auch letzthin, als Blocher im Berner Kursaal in einer seiner Reden an die Nation wieder sein mythisches Geschichtsbild der Schweiz beschworen hat, sind die Medien gerannt. Die Frage, die ich mir danach stellte: Warum schreiben die Zeitungen darüber seitenweise, statt das Stammtischgepolter mit einer ironischen Kurzmeldung zu gewichten? Tinu Heinigers Antwort[1], die er mir während eines Telefongesprächs gibt, entlarvt meine Frage als Ausdruck intellektueller Arroganz: Blocher sei wichtig, sagt er, «weil er etwas bewegt». Letzthin sei er auf einem ausgedehnten Spaziergang über dem Thunersee mit einem Bauer ins Gespräch gekommen, der sich schnell als Blocher-Anhänger habe zu erkennen gegeben. Wenn er all die staatlichen Vorgaben für die Baurerei umsetzen müsse, könne er zusammenpacken, und wenn der Beitritt zur Europäischen Union käme, dann erst recht. Da sei der Blocher eben der einzige, auf den man sich noch verlassen könne. Und jetzt kämen die in Bern mit diesem Solidaritätsfonds für Naziopfer – statt dass man die Juden endlich zum Teufel schicke. Und den Jugoslawen solle man ruhig Waffen liefern, damit die sich alle gegenseitig kaputt machten, je schneller desto besser. Et cetera.

Aus Heinigers Darstellung wurde klar: Es gibt heute eine über Jahrzehnte als Stütze der Gesellschaft eingebundene Bevölkerungsschicht, die unterdessen aus dem Ganzen des ideologischen Sprachkomplexes ausgegrenzt worden ist. Das Weltbild dieser Leute wird zunehmend zu einem Syndrom aus dräuenden Ressentiments. Für diese Gesellschaftsschicht wird Blocher mehr und mehr zum Übervater, zum Führer und Hoffnungsträger für eine reaktionäre Gesellschaftsperspektive, auf die auch jenes offen rassistische und faschistoide Gedankengut projiziert werden kann, das in Blochers Ausführungen bis heute wohl mitgemeint gewesen sein könnte, jedoch nie explizit formuliert worden ist.

Zu meinen, wenn man die Gegenargumente gegen Blochers Geschichts- und Gesellschaftsbild kenne, sei schon das Phänomen Blocher widerlegt, ist  intellektuelle Ignoranz: Das Problem ist nicht, Blocher zu widerlegen, das Problem ist, sein Fussvolk davon zu überzeugen, dass Blocher ein Scharlatan ist. Dazu aber braucht es mehr und anderes als das Selbstbewusstsein der diskursiven Überlegenheit. Wo ein Diskurs ausgegrenzt wird, beginnt der Bauch Politik zu machen; wird das Ressentiment zur Weltsicht, wird gleichzeitig Brachialgewalt zur politischen Praxis. Und dann wird die grosse Mehrheit der Intellektuellen opportunistisch zu Wendehälsen, von den restlichen die meisten gehen in die innere Emigration oder ins Exil.

Soweit ist die Schweiz nicht: Blochers medialer Unterhaltungswert besteht ja nicht zuletzt darin, dass er zurzeit die Macht nicht hat, die kritisch gemeinte Berichterstattung zu unterbinden. Man reizt den Stier in der Arena von der Tribüne aus und vergisst, dass sich unter der Stierhaut einer der Mächtigsten aus der Ehrenloge versteckt, der solange Spiele statt Brot inszeniert, bis ihn die Mehrheit auf der Tribüne zum König macht.

Heute wächst das Versäumnis der Intellektuellen: Sie haben für Blochers Fussvolk weder Worte, noch Verständnis noch gar Auswege aus der Krise. Die ausgegrenzte Sprache dieser verbitterten und verführten Rechtschaffenen ist ihnen ein am äussersten Rand des Bewusstseins wahrgenommenes, lästiges Rauschen. Ansonsten sind sie vollauf damit beschäftigt, ihre kleinen Machtpositiönchen im Ganzen des ideologischen Sprachkomplexes zu verteidigen und auszubauen.

[1] Nachdem ich Heiniger unter dem Titel «E Chemp löst sich vor Nagelflueh» 1994 für die WoZ porträtiert hatte, stand ich mit ihm noch einige Jahre lang in unregelmässigem Kontakt.

(26./27.6.1997; 30.11.2017; 05.07.2018)

 

Nachtrag 2 ad. 1.

So ist das noch zehn Jahre weitergegangen. Vor drei Tagen nun, am 12. Dezember 2007, hat die Vereinigte Bundesversammlung den unterdessen seit vier Jahren als Bundesrat amtierenden Christoph Blocher abgewählt. Nach diesen zehn Jahren hat man einigermassen Mühe zu glauben, dass diese Abwahl tatsächlich stattgefunden hat. Als hoffnungsvolles Bild ging mir unmittelbar nach der Annahme der Wahl durch Blochers Nachfolgerin Eveline Widmer-Schlumpf, die sich einen Tag Bedenkzeit ausbedungen hatte, durch den Kopf, dass mit diesem Ereignis der Deckel weggesprengt worden sein könnte von jener Schweiz, die seit dem Zweiten Weltkrieg dieses Land als gottgefälliges Paradies gegen den Rest der Welt zu verteidigen gewillt war – jahrzehntelang weitgehend erfolgreich. Falls Blocher nicht noch ein Comeback gelingt, ist seine Partei vermutlich auf Jahre hinaus geschwächt. Und dann könnte die Schweiz doch allgemach bereit sein für das 21. Jahrhundert.

(15.12.2007)

 

Nachtrag 3 ab. 1.

Ich habe kein Talent zu realitätshaltigem Optimismus. Unterdessen hat die SVP den zweiten Bundesratssitz von Evelyne Widmer-Schlumpfs BDP wieder zurückbekommen (2015), Blocher ist jetzt 77 Jahre alt, steht in der zweiten Reihe seiner Partei, aber ist bis heute einer ihrer wichtigsten Köpfe geblieben. Er betreibt eine eigene Website, auf der er fast wöchentlich neue Interviews mit ihm und Referate von ihm dokumentiert. Und er lässt sich weiterhin wöchentlich von seinem Adlat Matthias Ackeret interviewen. In der neusten, 534. Folge von «Teleblocher» reden die beiden krawattierten Herren darüber, dass die Familie Blocher im neuen Ranking des schweizerischen Wirtschaftsmagazins Bilanz «Die 300 Reichsten» erstmals unter den Top Ten aufgetaucht sei. Das Vermögen der Familie betrage jetzt 11 bis 12 Milliarden Franken, vier Milliarden mehr als letztes Jahr. En passant kommentiert Blocher eine in diesem Tagen kolportierte Aussage seiner Tochter, der Unternehmerin und SVP-Nationalrätin Magdalena Martullo-Blocher. Diese hat gesagt: «In einem Notfall, wenn die EU uns plötzlich unerwartet stark unter Druck setzen würde, würde ich das Amt [der Bundesrätin, fl.] wohl in Betracht ziehen, sonst nicht.» (Blick, 20.11.2017) Am 2. Dezember 2017 berichtet der Bund unter dem Titel «Achtung, die Martullo» über eine Frau, die innert zweier Jahre zu einer zentralen Figur der SVP-Nationalratsfraktion aufgestiegen sei – wohl auch, was der Artikel freilich nicht insinuieren darf, weil sie «fünfmal so viel Geld wie alle anderen National- und Ständeräte zusammen» besitze. So geht das also weiter mit der nun schon dreissigjährigen Blochernormalität in diesem Land. Bis die wachsenden ökonomischen und ökologischen Widersprüche dafür sorgen werden, dass auch in der Schweiz das 21. Jahrhundert beginnt.

(27., 30.11.+2.12.2017)

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