Der Fetisch der Sprachmacht

1. Die WoZ regieren

Seit einem Jahr, seit das Konvolut gedruckt vorliegt, habe ich keine Zeit mehr gehabt, mich mit den Fragen um die Besitzverhältnisse an der Sprache und um die poetischen Konstellationen zu beschäftigen. Ein verlorenes Jahr? Ich habe mich 1990 um den «Kulturboykott 700» gekümmert (er wird wohl immerhin noch einige Zeit ein kulturpolitisches Argument bleiben) und vor allem um die Frage: Wie lässt sich in einem selbstverwalteten Betrieb, der – wie die WoZ – eine Grösse übersteigt, die die Leute tatsächlich Basisdemokratie praktizieren liesse, eine mehr oder weniger effiziente Arbeitsweise ohne Hierarchisierung erreichen (wobei «Effizienz» das unvermeidliche kapitalistische Diktat meint, Vermeidung von Hierarchie in der Produktion jedoch den emanzipativen Anspruch des Projekts: Eine Gesellschaft, die bei der Produktion des gesellschaftlich Notwendigen auf das hierarchische Diktat – also auch: auf die Privatisierung der Produktionsmittel – verzichten würde, wäre eine utopische Gesellschaft)?

In dieser täglichen, praktischen Auseinandersetzung mit Hierarchie und Macht hat mich vor allem die Funktion der Sprache bei der Formalisierung und Konsolidierung von aussersprachlichen Machtstrukturen interessiert. Ich wurde Mitglied der neu zusammengestellten «Geschäftsleitung» und darin der Protokollschreiber. Ich schrieb diese Protokolle auf Personal Computern[1], soweit wie möglich fehlerfrei, wählte einen Protokollkopf mit offiziellem WoZ-Logo, nummerierte die Protokolle durch, gliederte die Abschnitte mit Zahlen und grafischen Massnahmen und formulierte in einer möglichst unpersönlichen, technokratischen Sprache.

Die Protokolle wurden – soweit möglich noch am Tag der Sitzung – als Verlautbarungen in die Fächlein sämtlicher Kollektivmitglieder gelegt. Im Prinzip waren so immer alle über alle Entscheidungen und Diskussionen in der «Geschäftsleitung» informiert; Protest wäre – formalisiert – via Referendum von mindestens fünf Kollektivmitgliedern möglich gewesen (in diesem Fall wäre das Geschäft dem Plenum zur letztinstanzlichen Behandlung vorgelegt worden). Von dieser Möglichkeit wurde bei 22 Protokollen nie Gebrauch gemacht. Obschon die «Geschäftsleitung» keine formalisierte, hierarchische Sonderstellung hat (also kein definiertes Weisungs- und Sanktionsrecht), hat sie über ihre Entscheidungen Macht ausgeübt. Zu dieser Machtausübung diente die Sprache als strategisches Instrument.

Die vorläufige These (die bisher Gesagtes in Frage stellen könnte): Machtausübung über die Sprache geschieht auch über ihre Fetischisierung. Fetisch der Sprachmacht heisst: Sprache erscheint durch Darstellung, Formulierung, Vortrag «aufgeblasen», als Zaubermittel im magischen Ritual der Machtausübung (etwa indem aussersprachliche, zum Beispiel graphische Signale eingesetzt werden, die gesellschaftliche Macht, soziales Kapital etc. bedeuten). Zwischen derart fetischisierter Sprache und Machtstruktur entsteht eine symbiotische Wechselwirkung: Machtstrukturen stärken die Bedeutung der Sprache, fetischisierte Sprache konsolidiert und stärkt Machtstrukturen.

Das Neue an diesem Argument: Macht lässt Sprache nicht nur via Besetzung der Begriffskonnotationen, sondern auch über ihren Einsatz als Fetisch arbeiten (wobei die Besetzung der Konnotationen auf den Inhalt, der Fetisch auf die Form der Sprache zielt). Die Sprache funktioniert im Sinn jener, die Sprachkonnotation und -fetischisierung beherrschen. (Zur Sprachregelung: Die Sprache «gehört» jenen, in deren Interessen sie zwangsläufig funktioniert.)

Den Mächtigen «gehört» die Sprache, und zwar so, dass sich – immerhin leben wir in einer «freien Welt» – alle, die diese Sprache sprechen, zwar einbilden können, sie hätten eine eigene (im Sinn der Meinungsäusserungsfreiheit). In Bezug auf die politisch verändernden Diskurshegemonien ist solche Sprache jedoch nichts als Lallen und Rauschen. (Demokratie funktioniert gerade deshalb, weil alle alles sagen dürfen – auch die grosse Mehrheit, die inhaltlich nichts zu sagen hat.)

2. Wem dient die Sprache?

«Figurationen» seien, so der Soziologe Norbert Elias, strukturierte Abhängigkeits- und Machtbeziehungen zwischen Menschen: «Eine Gesellschaft ist eine spezifische Struktur von Beziehungen gegenseitig abhängiger Menschen.»[2] Was folgt, wenn ich die Sprache in ihrer gesellschaftlichen Gesamtheit als «Figuration» betrachte – demnach als spezifische Struktur von Sprachbeziehungen gegenseitig abhängiger Menschen? Primär, dass Sprache ein Phänomen von fundamentalen Interdependenzen ist: Es gibt keine Kommunikation ohne Rezeption.

Die Frage: Wem gehört die Sprache? ergibt metaphorisch Antworten wie diese: Wem die Sprache «gehört», der «besitzt» sie; wer keine Sprache «hat», ist «stumm». Der kommunikative Charakter der Sprache ist hier ersetzt durch den direktiven Charakter von Befehlssprache.

Verbale Kommunikation als Figuration betrachtet ergibt dagegen andere Fragestellungen: Wem dient die kommunizierende Sprache? Wer instrumentalisiert Sprache zu welchen Zwecken? Für respektive gegen wen funktioniert Sprache? Wer wird durch Sprache beherrscht? Wer wird von Sprache instrumentalisiert, zu welchen Zwecken? Und wie funktioniert diese Instrumentalisierung genau?

[1] Dieser Hinweis ist heute erklärungsbedürftig: 1989/90 waren die Jahre, in denen die technologische Revolution der elektronischen Textbearbeitung die WoZ-Redaktion erreichte. In dieser Zeit der erzwungenen Umstellung der Arbeitsweise von der Schreibmaschine auf den PC hatten elektronisch verfasste Typoskripte, die einen sauber gelayouteten Ausdruck möglich machten, gerade auch bei den RedaktionskollegInnen ein hohes Prestige. Darum geht es hier.

[2] Dieter Karrer: Norbert Elias 1897-1990, in: Widerspruch, 20/1990, S. 137f.

(24./25.12.1990; 18.12.1997; 28.08.2017; 03.06.2018)

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