Journalistische Ethik

Notizen zu einem Gespräch mit zwei Studentinnen und einem Studenten der Universität Bern, die an einer Seminararbeit über journalistische Ethik arbeiten:

1. ad. Ethik

a) Ethik bezeichnet den Motivationszusammenhang, unter dem Handlungsweisen und einzelne Taten eines Menschen stattfinden. Sie gibt Antwort auf die Frage: Warum tut ein Mensch das eine und nicht das andere?

b) Die ethische Perspektive ergänzt die politische: Die Politik betrachtet die Tat von «aussen», in ihrer Wirkung; die Ethik von «innen», in ihrer Ursache.

c) In Bezug auf Berufsethik ist es sinnvoll, autoritative (fremdbestimmte) und autonome (selbstbestimmte) Ethik zu unterscheiden und aus ihrer dialektischen Verzahnung den Grad der Entfremdung der Berufsarbeit herzuleiten.

2. ad. Journalistische Ethik

Journalistische Ethik bezeichnet den Motivationszusammenhang, unter dem die Arbeiten eines Journalisten/einer Journalistin ausgeführt werden. Ethische Fragestellungen an JournalistInnen:

a) In wessen Dienst findet meine Arbeit statt? Welche Interessen verfolgt das Medium, für das ich arbeite? Wer befiehlt, wer bezahlt? In welchem Rahmen findet meine Arbeit statt? In welchem Rahmen würde ich zu welchen Bedingungen welche journalistischen Arbeiten ausführen? In welchem Rahmen zu welchen Bedingungen welche Arbeiten nicht? Warum?

b) Was will ich mit meiner Arbeit? Welche Interessen verfolge ich mit meiner Arbeit? Warum bearbeite ich welche Inhalte in welcher Form? Jede journalistische Arbeitssituation ergibt eine spezifische Konstellation von konvergierenden und divergierenden autoritativen und autonomen ethischen Aspekten.

Jede journalistische Arbeit ist eine ethisch zu verantwortende politische Tat und muss als solche verstanden und kritisiert werden.

3. ad. Journalistische Ethik bei der WoZ

Bei der WoZ gibt es keine festgeschriebenen Richtlinien einer (autoritativen) journalistischen Ethik. Eine WoZ-Ethik wäre deshalb die Schnittmenge aller autonomen journalistischen Ethiken jener, die für die WoZ schreiben. Dies ergibt eine Ethik mit einem konsensfähigen argumentativen Zentrum, das nach vielen Seiten in partielle Minderheitenpositionen ausfranst. Die bisherige Erfahrung zeigt, dass dieses «ethische Zentrum» nicht zu einem informellen Redaktionsstatut versteinert ist, sondern sich personenabhängig in die eine oder andere Richtung verschieben kann.

Ich vertrete hier meine autonome journalistische Ethik, die als teilweise WoZ-konsensfähige Ethik gelesen werden kann.

4. ad. Konsensfähiges argumentatives Zentrum der WoZ-Ethik

Eine Wirklichkeit, die nicht fortwährend kritisiert wird, versteinert in unveränderbare Herrschaftsstrukturen. Solche Strukturen sind immer menschenverachtend. Eine Wirklichkeit, die nicht kritisiert wird (und dadurch unkritisierbar wird) ist die einer unfreien Welt. Die von der WoZ geführte Kritik ist nach herrschendem Sprachgebrauch «links», wir nehmen für uns präzisierend in Anspruch: und «undogmatisch».

Grundsätzlich sind zwei Stossrichtungen unserer journalistischen Kritik denkbar:

a) «Die Links-rechts-Kritik». Darunter verstehe ich den Aufklärungsdiskurs; den Diskurs, der sich permanent an jenem der Reaktion abarbeitet. Vorausgesetzt wird: Der Diskurs der Reaktion transportiert im Prinzip «falsches Bewusstsein», d. h. Ideologie. Das Instrument des Aufklärungsdiskurses ist demnach die Ideologiekritik (ihre Aufgabe ist es, die Welt argumentativ vom Kopf auf die Füsse zu stellen).

b) «Die Oben-unten-Kritik». Darunter verstehe ich den Machtdiskurs, den Diskurs, der sich permament an Herrschaftstrukturen und an einzelnen VertreterInnen dieser Herrschaft abarbeitet. Dieser Diskurs nimmt – aus der WoZ-Perspektive – für die Unteren und gegen die Oberen Stellung. Bürgerliche Presseideologen (Peter Studer u. a.) diskreditieren diesen Journalismus als «anwaltschaftlich». Tatsächlich betreiben wir einen parteiischen Journalismus, der seine Parteilichkeit offen dekretiert (er steht deshalb gegen Konzeptionen, die «Objektivität» oder «Ausgewogenheit» anstreben). Das Instrument des Machtdiskurses (eigentlich: des Anti-Machtdiskurses) ist der aufdeckende und eingreifende Journalismus: Er «enthüllt» Machtstrukturen und nennt die Namen der Handelnden.

5. Ethik und linke Perspektive

Zu den ausfransenden ethischen Bereichen gehört seit jeher die Frage, auf welchen Horizont, konkret: auf welche Sozialismus-Utopie die einzelnen WoZ-SchreiberInnen ihre Kritik beziehen. Gerade nach den Umwälzungen im Ostblock in diesem Herbst/Winter[1] muss die Frage: Welche Welt wollen wir? Was wollen wir mit unserer journalistischen Arbeit erreichen? neu beantwortet werden. Wir bieten uns und anderen zurzeit keine konkreten utopischen Hoffnungen an. Wir wissen lediglich, dass das nicht klar benennbare Ziel irgendwo in der Verlängerung von Ideologie- und Herrschaftskritik liegen muss – also in einer freieren und menschgemässeren Welt. Aber was heisst das konkret?

6. Aktuelle bürgerliche Maximen im Journalismus

a) «Objektivität». Objektivität als medienpolitisches Postulat wird als Kampfbegriff von rechtsbürgerlichen Medienkritikern (gegen die SRG) und von der NZZ ins Feld geführt. Der Begriff verschleiert, dass es im Spannungsfeld gesellschaftspolitischer Auseinandersetzungen keine «objektive» Haltung geben kann, dass im Journalismus im speziellen jede denkbare Montage eines Textes «subjektiv» ist, dass es überhaupt keine interessenunabhängige Erkenntnis und Darstellung von Erkenntnis geben kann. Der Begriff «Objektivität» ist demnach Ideologie: Er symbolisiert den hegemonialen Erkenntnisanspruch jener, die sich zum Beispiel von der NZZ vertreten fühlen. Mit dem Begriff «Objektivität» wird der Links-rechts-Diskurs anti-aufklärerisch und der Oben-unten-Diskurs von oben geführt. Wo unkritisch von «journalistischer Objektivität» die Rede ist, spricht der politische Gegner der WoZ.

b) «Ausgewogenheit». Der Begriff mag für die Monopolmedien SRG und DRS eine bestimmte Berechtigung haben, die ihn gegen «Objektivität» setzen. In den Forumszeitungen BaZ, BZ, TA usw. hat er unter jenen, die diese Ausgewogenheit herstellen sollen – den JournalistInnen –, ein Sowohl-als-auch-Denken hervorgebracht, das in vielen Fällen nicht von Gehirnerweichung unterschieden werden kann. «Ausgewogenheit» in den Printmedien hat zu einer Praxis der Standpunktlosigkeit, Orientierungslosigkeit und des Opportunismus geführt.

c) «Verkaufserfolg». Die einzige Konstante in der Berichterstattung des «Blick» ist seine Orientierung an den Verkaufszahlen. Bedingungsloser Populismus ist seine einzige erkennbare ethische Maxime. Inhaltlich kippt er oft sogar innerhalb ein und derselben Geschichte – zieht sich die Berichterstattung über mehrere Tage hin –, von relativ fortschrittlicher in relativ reaktionäre Darstellung (und umgekehrt). Der «Blick» will die Masse der nicht-intellektuellen, nicht sehr lesegewohnten «kleinen Leute» erreichen. Mit seiner boulevardisierten Aufmachung weist er seine Absicht offen aus.

7. Autonome und autoritative journalistische Ethiken

Während «Objektivität», «Ausgewogenheit» und «Verkaufserfolg» als journalistische Maximen des bürgerlichen Journalismus letztlich stark von ökonomischen Rahmenbedingungen diktiert werden und einer autoritativen Ethik verpflichtet sind, kann ich als WoZ-Journalist weitgehend auswählen, wessen Anwalt ich journalistisch sein will oder nicht sein will. Der Spielraum, autonomen ethischen Prinzipien zu gehorchen respektive nicht untreu zu werden, ist für mich bei der WoZ bedeutend grösser.

[1] Gemeint ist im Januar 1990 damit der Mauerfall und die ersten Folgen.

(03.-08.01.1990; 24.09.1997; 28.08.2017; 03.06.2018)

 

Nachtrag

Mit vielem bin ich auch heute einverstanden. Insbesondere meine ich weiterhin, anwaltschaftlicher Journalismus sei der ehrlichere als als jener, der so tut, als wäre er es nicht (allerdings mit umgekehrten Interessen). Beim Abschnitt «Verkaufserfolg» bin ich aus zwei Gründen gestolpert.

• 1990 habe ich den Begriff «Populismus» aus heutiger Sicht sehr unpräzis gesetzt. Gemeint ist in diesem Zusammenhang wohl so etwas wie Marktopportunismus. Ich gehe aber auch davon aus, dass sich die Bedeutung des Begriffs seither gewandelt hat. Zurzeit charakterisiert man mit Populismus einzelne politische Formulierungen oder ganze Kommunikationsstrategien von politischen Parteien; langezeit vor allem von rechten und rechtsnationalen. Seit einiger Zeit ist es Mode geworden, von rechtem und linkem Populismus zu reden – wobei das vor allem die politische Mitte und mit ihr der forumsblättrige Medienopportunismus tut, der rinks und lechts nicht selten velwechsert.

• Betroffen macht mich, dass es mir heute nicht mehr in den Sinn käme, zur Charakterisierung des Marktopportunismus die Tageszeitung «Blick» hervorzuheben. In diesem Sinn ist heute das meiste, was sich in der Öffentlichkeit als Medium zu halten vermag, klickfixiert, einschaltquotensüchtig, nachfragegeil.

(28.08.2017; 03.06.2018)

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