Geheimes Wissen

Bei Michel Foucault lesend, «dass es keine Machtbeziehung gibt, ohne dass sich ein entsprechendes Wissensfeld konstituiert, und kein Wissen, das nicht gleichzeitig Machtbeziehungen voraussetzt und konstituiert»[1], formuliere ich eine Hypothese: Die wenigsten dieser Wissensfelder sind öffentlich zugänglich und allgemein bekannt. Es gibt ganze Kontinente mehr oder weniger unzugänglichen, ja geheimen Wissens – bei weitem nicht nur das strategische, operative und logistische von militärischen und zivilen, von legalen und kriminellen Organisationen. Ob in Forschungszentren von Konzernen oder in den Kirchen, ob unter Diplomaten, Geheimbündlern oder Mafiosi, ob – vermittelt durch nicht-öffentliche Erziehung – als Ingredienzien sozialen und kulturellen Kapitals einzelner Menschen und sozialer Netzwerke: Überall wirkt Wissen, das seine Macht gerade aus seiner öffentlichen Unzugänglichkeit bezieht – demnach grundsätzlich antidemokratisches Wissen, das genau dort beginnt, wo der herrschaftsfreie Diskurs aufhört. So gesehen ist davon auszugehen, dass sämtliche gesellschaftlichen Entwicklungen massgeblich, zum Teil entscheidend von antidemokratischen Wissensstrukturen respektive von deren TrägerInnen mitbestimmt oder gesteuert werden – eisbergartig: Sechs Siebtel des Wissens, das lenkt, bleibt verborgen.

Unter diesem Aspekt gibt es eine herkunftsmässig bedingte, lebenslänglich nicht entscheidend korrigierbare Naivität jener, die aus der Unterschicht kommen und mitreden wollen (ich rede hier vor allen anderen von mir): Die Naivität besteht darin, dass diese Leute so intelligent und anständig wie möglich mit dem öffentlich zugänglichen Wissen umgehen, ohne sich wirklich im Klaren zu sein, dass ihnen der Zugang zu sechs Siebteln des den öffentlichen Raum bestimmenden Wissens vorenthalten bleibt.

Nie werden Knechte Herren, am wenigsten wenn die Herren sie öffentlich Herren spielen lassen (öffentlich als Herr zu gelten ohne es zu sein, ist heute ein ziemlich undankbares und anstrengendes Vergnügen: siehe all die rotgrünen Stadtregierungen in der Schweiz). Die Ausbootung von Klerus und Patriziat aus den öffentlichen Machtpositionen (hierzulande wohl erst in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts) schränkte deren Einfluss nur langsam ein, kurzfristig veränderte sich lediglich das Erscheinungsbild ihrer Einflussnahme, die verdeckt womöglich noch effizienter funktioniert hat (weil informelles Handeln ethisch unverantwortetes Handeln bleiben kann). Erst Säkularisierung und Verbürgerlichung der Gesellschaft verschob die Machtverhältnisse langsam.

Der Preis für die Demokratisierung der Gesellschaften, die ja überall bloss eine Demokratisierung jener Räume sein kann, die als öffentlich definiert werden, ist hoch: Die Verantwortung für das gesellschaftliche Handeln ist heute über sogenannte demokratische Wahlen einer tendenziellen Unwissenheit und Ahnungslosigkeit zugeschoben, die von verdeckten Wissenszentren her manipulativ gesteuert werden.

Die Hypothese dieses geheimen Wissens wäre eine vernünftige Begründung für meine Beobachtung der Ausdünnung öffentlicher Räume bis hin zur reinen Simulation von Öffentlichkeit über massenmediale Kanäle: Je simulativer die Öffentlichkeit, desto effektiver der Durchgriff des verdeckten Wissens auf das gesellschaftliche Handeln.

[1] Michel Foucault: Überwachen und Strafen. Frankfurt am Main (Suhrkamp Verlag) 1977, S. 39.

(28.04.+04.05.1994; 23.08.2005; 15.8.2017; 08.05.2018)

 

Nachtrag 1

Als Journalist bleibe ich dem «Werkstück» gegenüber misstrauisch. Mit Sicherheit hat die These eine verschwörungsthoretische Schlagseite, die nicht haltbar ist. Was mit hartnäckiger und umfangreicher Recherche möglicherweise nachweisbar wäre: dass TrägerInnen bestimmter Wissenformen – ich denke an die ganze Public-Relations-Industrie – tatsächlich ihre Einflussnahme systematisch so gestalten, dass sie ihrem Ziel näherkommen, ohne je sagen zu müssen, warum sie was tatsächlich zu erreichen versuchen.

(12.2008; 15.08.2017)

 

Nachtrag 2

Dieses Misstrauen habe ich heute nicht mehr. Eher ein anderes. Zwar bietet das «Werkstück» nur eine holzschnittartige Hypothese, die in eine bestimmte Richtung weist. Aber die Richtung ist, scheint mir heute, plausibel. Zurzeit gilt mein Misstrauen eher dem Begriff «Verschwörungstheorie», der in der Mainstream-Öffentlichkeit zweifellos als «Denunziationsbegriff» (Rainer Mausfeld) eingesetzt wird, nicht nur gegen «Theorien», sondern bereits gegen Formulierungen, die geeignet sind, hanebüchene offizielle Sprachregelungen in Frage stellen.

Die Formulierung «Wissen ist Macht» geht offenbar auf Francis Bacon zurück und war in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ein geflügeltes Wort in der Arbeiterbewegung. Foucaults Formulierung im Werkstück bietet diese Idee im Jargon der Diskurstheorie. Dass diese Idee etwas mit Geheimnis zu tun haben könnte, zeigen Begriffe vom altrömischen «Arcana Imperii» bis zum aktuell viel zitierten «Deep State».

Fragen könnte man sich allenfalls, ob Herrschaftswissen das Geheimnis überhaupt braucht. Marx/Engels schreiben: «Die Gedanken der herrschenden Klasse sind in jeder Epoche die herrschenden Gedanken, d.h. die Klasse, welche die herrschende materielle Macht der Gesellschaft ist, ist zugleich ihre herrschende geistige Macht. […] Die herrschenden Gedanken sind weiter Nichts als der ideelle Ausdruck der herrschenden materiellen Verhältnisse, die als Gedanken gefassten herrschenden materiellen Verhältnisse; also die Verhältnisse, die eben die eine Klasse zur herrschenden machen, also die Gedanken ihrer Herrschaft».[1] So gesehen würde die Frage nach dem Geheimnis in die Irre führen, weil Herrschaft und Wissen identisch wären als eine Art Sonne über der sozialen Welt.

Allerdings könnte man fragen: Ist es nicht eher so, dass herrschende Gedanken nur dann herrschende bleiben, wenn Beherrschte sie sich nicht als Handlungsanleitung zur Herrschaftsbekämpfung aneignen können? Allerdings: Müssen diese Gedanken deswegen geheim bleiben oder reicht es, wenn sie öffentlich in einem Diskursrahmen debattiert werden, der das System nicht sprengt, sondern stabilisiert?

In den letzten Wochen habe ich – man merkt es – über politisches Framing[2] und über Propaganda[3] gelesen. Die Frage, die mich im Moment beschäftigt: Wie organisiert man in einer demokratisch verfassten Gesellschaft das Wissen so, dass das Demokratie-Spielen nicht aus dem Ruder läuft? Und wer unterzieht sich dieser Arbeit – wenn nicht die Medien als vierte Gewalt im Staat? Und wenn es so wäre: Sind Medien dann für die Verteidigung der demokratischen Öffentlichkeit zuständig oder für die Stabilisierung der Herrschaftsverhältnisse? Und: Ist das in einer Demokratie am Ende das Selbe? Und wenn ja, warum?

[1] Karl Marx/Friedrich Engels: Die deutsche Ideologie. Werke Band 3. Berlin (Dietz Verlag) 1983, S. 46.

[2] Elisabeth Wehling: Politisches Framing. Wie eine Nation sich ihr Denken einredet – und daraus Politik macht. Köln (Herbert von Halem Verlag) 2016.

[3] Edward Bernays: Propaganda Berlin (orange-presse) 2014 [erstmals erschienen: 1928].

(15.+17.08.2017; 08.05.2018)

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