Wiederkehrende Kriegsgefahr

Jetzt, zwischen 16 Uhr und 16 Uhr 15 dieses 13. Januars 1991, läuten in der Stadt Bern alle Kirchenglocken. Zwei Tage vor Ablauf des amerikanischen Ultimatums gegen den Irak, der nach wie vor Kuwait militärisch besetzt hält, ist die Kriegsgefahr akut geworden (gleichzeitig hat die sowjetische Armee in der Nacht auf heute die Autonomiebestrebungen in Litauen militärisch zu bekämpfen begonnen und damit Gorbatschows Perestroika faktisch beendet[1]).

Ich erinnere mich: 1964 – bei der Eröffnung der Landesausstellung «Expo» – haben in Roggwil ebenfalls die Kirchenglocken geläutet. Ich sass als Viertklässler in der Schule (ein warmer, sonniger Tag, blauer Himmel mit weissen Wolken, vermutlich Mai), und die Lehrerin – sie hiess Dora Christen – erzählte folgende Geschichte: 1914 habe es in Bern eine Landesausstellung gegeben und im gleichen Jahr einen Weltkrieg. 1939 habe es die «Landi» in Zürich gegeben und im gleichen Jahr wieder einen Weltkrieg. Und jetzt werde diese Expo eröffnet: «Was sech zweiet, dreiet sech ou», sagte sie und hatte dabei Tränen in den Augen. (Es war mitten im Kalten Krieg – Kubakrise und die Ermordung des US-amerikanischen Präsidenten John F. Kennedy waren noch in frischer Erinnerung.) Am 10. und 11. Januar sind nun die 700-Jahr-Feierlichkeiten der Eidgenossenschaft eröffnet worden. Und wieder läuten die Kirchenglocken.

[1] Diese militärische Auseinandersetzung ging als Vilniusser Blutsonntag in die Geschichte ein.

(13.01.1991; 10.08.2017; 08.05.2018)

 

Nachtrag 1

Jetzt, gut sieben Jahre später, lebe ich in einer anderen Welt, obschon der Konflikt zwischen den USA und dem Irak im letzten Monat um ein Haar zu einem weiteren «Golfkrieg» eskaliert wäre. Offiziell ging es um den Zugang zu den sogenannten «Anlagen des Präsidenten» Saddam Hussein für die Waffeninspektoren der UNO, in denen Produktionsstätten für biologische und chemische Waffen vermutet werden. Hussein verweigerte den Zutritt. Der UNO-Generalsekretär Kofi Annan konnte Ende Februar die angekündigten Luftangriffe der USA auf Husseins Anlagen mit einer diplomatischen Irak-Reise und einem spektakulären Verhandlungserfolg vorderhand abwenden.

Die Kriegsgefahr von 1991 hatte eine andere Dimension und ich erinnere mich, dass die Leute hierzulande damals stark beunruhigt waren, es gab Demonstrationen und einen ziemlich pathetischen Friedensdiskurs: Man sorgte sich auch ein bisschen um die eigene Haut. Und zwar nicht ganz zu Unrecht: Historisch betrachtet war der Januar 1991 der letztmögliche Zeitpunkt, in dem man sich vorstellen konnte (und musste), dass ein regionaler militärischer Konflikt, in dem sich eine Supermacht offen engagierte, in der Ost-West-Logik des zu Ende gehenden Kalten Kriegs hätte zu einem Dritten Weltkrieg eskalieren können.

Heute ist vieles anders: Die Sowjetunion und die Rote Armee gibt es nicht mehr, und der Protest aus Osteuropa gegen den angekündigten Angriff der USA nimmt man allenthalben gelassen: Russland hängt hoffnungslos am Tropf des westlichen Kapitalismus. Wer nimmt schon das Gebell eines zahnlosen Hundes ernst? Deshalb hat es im letzten Monat keine pathetische Friedensrhetorik, keine Aktionen, keine Demonstrationen und kein Kirchengeläut gegeben. Und die Medienkommentare waren coole Analysen – in jenem Ton abgegeben, in dem sich Fussballfreaks kennerisch über das Spiel zweier ausländischer Mannschaften unterhalten.

(10.-22.03.1997; 09.03.1998)

 

Nachtrag 2

Jetzt, wieder acht Jahre später, Ist es so: Nachdem das 21. Jahrhundert am 11. September 2001 mit einem epochalen terroristischen Fanal begonnen hat, rief der amtierende US-amerikanische Präsident George W. Bush den «Krieg gegen den Terrorismus» aus, griff sofort die Taliban in Afghanistan und am 19. März 2003 dann den Irak an, siegte im Blitzkrieg und versucht seither zunehmend hilf- und ratloser, die Kontrolle über das in Chaos und Bürgerkrieg versinkende Land zu gewinnen. Seit dem offiziellen Kriegsende, das er am 14. April 2003 vorschnell ausgerufen hat, sind x-mal mehr US-amerikanische SoldatInnen gefallen als während des Krieges selber. Die Front verläuft immer mehr zwischen den Westmächten inklusive Israel und der islamischen Welt. In der Schweiz ist endgültig Courant normal zurückgekehrt. Man geschäftet mit beiden Seiten.

(05.2005)

 

Nachtrag 3

Jetzt, weitere zwölf Jahre später, melden eben alle Mainstream-Medien: Nordkorea droht, die amerikanische Pazifikinsel Guam mit Mittelstreckenraketen anzugreifen. Und der US-amerikanische Präsident Donald Trump hält tapfer dagegen: «Nordkorea sollte den Vereinigten Staaten nicht noch einmal drohen. Sie werden sonst ein Feuer und einen Zorn zu spüren bekommen, wie die Welt es noch nicht gesehen hat.» (Bund, 10.08.2017) Gleichentags strahlt das «Rendezvous» (SRF 1) ein Interview mit Mark Fitzpatrick aus, dem Direktor des International Institut for Strategic Studies in London. Früher war dieser Mann im US-Aussenministerium zuständig für Massenvernichtungswaffen, weshalb er dem Journalisten Fredy Gsteiger als «besonnener Beobachter» gilt. Fitzpatrick sagt (laut Gsteigers Übersetzung aus dem Englischen): «Das Tempo, die Intensität, mit der Nordkorea sein Atom- und Raketenprogramm vorantreibe, habe ihn und andere Beobachter verblüfft. Und es mache Angst. Nach den jüngsten beiden Tests stehe fest: Nordkorea besitze jetzt Kontinentalraketen, die imstande wären, auch das amerikanische Festland zu erreichen. Und: Kim Jong-un könne heute auch einen atomaren Gefechtskopf auf eine Rakete pflanzen.»

Zu meinem Werkstück vom 13. Januar 1991 ist aus heutiger Sicht zu bemerken: Der Golfkrieg, der dann am 17. Januar begann, diente dazu, den Irak aus Kuwait zu vertreiben. Dass die USA 22 Länder überzeugen konnte, diesen Krieg mitzutragen und Kuwait zu befreien, hatte sicher mit dem Zugang zum Erdöl zu tun, aber nicht zuletzt auch mit der Aussage der jungen Kuwaiterin Nayirah as-Sabah vor dem Kongress der Vereinigten Staaten. Unter Tränen bezeugte sie am 10. Oktober 1990 vor der Weltöffentlichkeit, irakische Soldaten hätten in einem Spital der Stadt Kuwait 312 Säuglinge aus Brutkästen gezerrt und auf dem Boden zerschmettert. Diese Aussage war Kriegspropaganda und ging als «Brutkastenlüge» in die Geschichte ein. Nayirah war die Tochter des kuwaitischen Botschafters in den USA und ihre Geschichte war in der New Yorker PR-Agentur Hill & Knowlton erfunden worden.[1]

Zum Nachtrag 1 ist zu bemerken, dass Saddam Husseins «Produktionsstätten für biologische und chemische Waffen» später, im April 2003, als Begründung für einen weiteren Irakkrieg dienten. Das Argument war, die USA müsse einem bevorstehenden Angriff des Iraks mit Massenvernichtungswaffen zuvorkommen. Sowohl die Massenvernichtungswaffen, als auch der bevorstehende Angriff waren Propagandalügen.[2] Unter Führung der USA und Grossbritannien zerstörte in der Folge eine «Koalition der Willigen» den irakischen Staat – was eine wichtige Voraussetzung war für die Entstehung des «Islamischen Staats», dessen Bekämpfung die ganze Region vom Irak bis Syrien mit weiterem, jahrelangem Krieg überzog.

Was mir heute durch den Kopf geht: Seit Russland Anfang Oktober 2015 in Syrien in den Krieg gegen den Islamischen Staat eingegriffen hat, wird es im Mittleren Osten langsam ruhiger. Gleichzeitig haben die Westmächte Einfluss und entsprechend ihre Waffenindustrien Absatzmärkte verloren. In dieser Situation also insinuiert mit Mark Fitzpatrick ein langjähriger Insider der US-Administration (er arbeitete unter Clinton und Bush jun.) im Schweizer Staatsradio, wegen der militärischen Fähigkeiten und der Unberechenbarkeit Nordkoreas wäre ein US-amerikanischer Erstschlag nichts als Selbstverteidigung. Wenn ich das glaube, halte ich – vorsichtig gesagt – möglicherweise Kriegspropaganda für wahr. Wenn ich’s nicht glaube, bin ich ein Verschwörungstheoretiker.

[1] Daniele Ganser: Illegale Kriege. Wie die NATO-Länder die UNO sabotieren. Zürich (Orell Füssli Verlag) 2016, S. 213 f.

[2] Ganser, a.a.O, S. 221 f.

(10.08.2017; 08.05.2018)

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