Bunkerangst

Mittwochabend, 9. Januar 1991: Jetzt geht die Geschichte über den im Bau befindlichen neuen Bundesratsbunker, über die geheimnisvolle staatliche Baustelle am Eingang des Gasterntals hinter Kandersteg unter meinem Namen in Druck[1]: Obschon ich sie mit konventionellen Recherchiermethoden (vor allem Telefon) gemacht habe; obschon mir kein irgendwie klassifiziertes Dokument zur Verfügung gestanden hat; obschon mir – für mich unverständlicherweise – ein hoher EMD-Beamter telefonisch bestätigt hat, dass es sich bei der Kandersteger Baustelle um die im letzten Sommer im Nationalrat kontrovers diskutierte zivile Führungsstruktur im Kriegsfall handle; obschon ich alle Informationen, die sich nicht «hart» machen liessen, fiktionalisiert habe (im Sinne der «Faction», die wir im Umfeld der Realismusdebatte 1983/84 diskutiert haben [2]); obschon der fertige Text von meinem juristischen Berater in presserechtlichen Fragen, dem Anwalt Willy Egloff, als «unbedenklich» eingeschätzt worden ist – trotz all dem ist die Geschichte ein Risiko: Dem Geheimhaltungsinteresse des Staates müsste vor Gericht das öffentliche Interesse entgegengestellt werden – vor den staatlichen Gerichten in diesem Fall wohl ein chancenloses Unterfangen, wie mir scheint.

Am Anfang der Recherche über diesen Bunker stand als Motivation meine Empörung darüber, dass die politische Elite in diesem Land in einer Zeit drängender politischer, ökonomischer, ökologischer Probleme und ideologischer Umwälzungen, in einer Verblendung, die Paranoia mit Allmachtsphantasien vereinigt, kilometertiefe Stollen in die Berge treibt, um sich gegen irgendwelche totalen Gefahren total verbarrikadieren zu können. Dieses Projekt, meine ich, muss öffentlich zur Diskussion gestellt werden.

1. Die Leute in Kandersteg müssen wissen, was ihnen da zugemutet wird und was das in einem «Ernstfall» bedeuten könnte, nämlich, dass «die grosse Bombe auf die Blümlisalp» fällt, wie Friedrich Dürrenmatt bereits 1981 halluziniert hat.[3]

2. Die schweizerische Öffentlichkeit muss zur Kenntnis nehmen, dass die herrschende politische Klasse hier und heute sich gegen das Volk entscheiden würde, wäre sie vor der Wahl «Volk oder Macht» gestellt: Regieren lässt sich im Notfall auch ohne das Volk – aber nur dann, wenn man nicht, mit dem Volk, durch den «Ernstfall» zu Tode gebracht wird. (Dass meine Reportage am 11. Januar, dem Tag der Eröffnung der 700-Jahr-Feier der Eidgenossenschaft in Bellinzona [4], erscheint, ist eine kleine Pointe: So steht sie als ein, wie ich hoffe, spektakuläres Argument der Aufklärung gegen die anrollende, staatlich verordnete Ideologie- und Propagandawalze).

3. Nach den Enthüllungen der Parlamentarischen Untersuchungskommission, die das Eidgenössische Militärdepartement zu durchleuchten hatte (P 26-Geheimarmee etc.) im letzten Monat, kann es – so scheint mir – auch unter jenen, die die herrschende Demokratie ideell tragen, keinen Vertrauensvorschuss mehr geben für staatliche Geheimnisse, in deren Logik jeder ernsthafte Versuch der Überwindung militärischer Konfliktlösungsstrategien von vornherein als lächerlich erscheint.

4. Seit der Abstimmung um die Armeeabschaffungs-Initiative der «Gruppe Schweiz ohne Armee» im November 1989 ist die Schweiz faktisch eine anti-militaristische Eindrittelsgesellschaft. In dieser Situation und nach mehreren waffentechnischen Revolutionen seit dem Zweiten Weltkrieg ist der unwidersprochen weitergepflegte, ins Absurde potenzierte Réduit-Wahn unannehmbar: Zivile Verteidigungsformen müssen zumindest diskutiert werden.

Diese paar Hinweise skizzieren die Gründe, warum ich die Veröffentlichung der Bundesratsbunker-Reportage für notwendig halte in der Hoffnung, dass sie eine Diskussion auslöse. Dies immer wieder zu versuchen, ist der rote Faden in meiner journalistischen und redaktionellen Arbeit (Realismusdebatte, Neuroleptika, Kulturboykott).

(9.1.1991; 07.08.2017)

[1] «Ogis Weinkeller», in WoZ, Nrn 1+2/1991.

[2] Zum Dossier Realismusdebatte.

[3] Friedrich  Dürrenmatt: Der Winterkrieg in Tibet, in: Gesammelte Werke Band 6. Zürich (Diogenes) 1991, S. 116.

[4] Zum Dossier Kulturboykott und zum Mäander 16: Kulturboykott – Feierabendtexte.

 

Nachtrag

Ein rührendes Dokument: Am Abend der Drucklegung eines Textes verfasse ich eine Rechtfertigungsschrift für meine Arbeit. Zweifellos ein Akt der psychischen Entlastung, ein Versuch, Angst einzudämmen. Ich erinnere mich, dass ich tags darauf auf der Zürcher WoZ-Redaktion war. Als die Zeitung vormittags aus der Druckerei kam, kämpfte ich mit meiner Verdauung: Dünnschiss vor Angst.

Es gab damals keine Reaktion auf den Text. Die befürchtete staatliche Repression und die erhoffte öffentliche Diskussion blieben gleichermassen aus: Die politische Kultur funktioniert in diesem Land ja längst nicht mehr so, dass Intellektuelle, also gesellschaftliche AussenseiterInnen, die Agenda der offiziellen Politik mitbestimmen könnten. Möglich, dass die enthüllende Thematisierung eines solchen Bunkerbaus als eines militärischen Geheimnisses noch bis 1989 zu presserechtlichen Problemen geführt haben würde. Aber die Armee verlor ihren überragenden Stellenwert in der schweizerischen Gesellschaft am Ende des Kalten Krieges von einem Tag auf den anderen.

Weil ich die politische Brisanz meiner Arbeit damals falsch einschätzte, sah ich mich übrigens veranlasst, die enthüllenden Passagen dem kurz zuvor, am 14. Dezember 1990, verstorbenen Friedrich Dürrenmatt in die Feder zu legen[1]: Gott habe ihm die Bitte erfüllt, unter der Blümlisalp nachschauen zu dürfen, was sich dort wirklich tue, nachdem er sich im «Winterkrieg in Tibet» die unterirdische Welt bloss ausgemalt habe. Dürrenmatt habe dann nach seiner Inspektion die Erkenntnisse auf halben Weg zwischen Erde und Himmel an die WoZ-Redaktion gefaxt. – Im Januar 1995, als ich die Geschichte nachrecherchierte, auf den neusten Stand brachte und ohne Faction-Kulisse noch einmal neu schrieb[2], kommentierte ich meine Erleichterung vom Januar 1991, als die staatliche Repression ausblieb, so: «Dieses gottgewollte Zusammentreffen von Metaphysik und Enthüllungsjournalismus muss damals sogar den Geheimhaltungsexperten des EMD eingeleuchtet haben.»[3]

Eine etwas billige Ironie: Tatsache ist, dass ich nach meinen Erfahrungen als Soldat der Schweizer Armee (1974 bis 1981) traumatisiert bin: Meine Angst vor dem unausweichlichen Zwangscharakter strikt hierarchischer Strukturen hat sich nicht deshalb in Nichts aufgelöst, weil weltgeschichtliche Veränderungen das Ideologem, die Schweiz habe keine, sondern sei eine Armee, obsolet hat werden lassen.

[1] Tatsächlicher Ausgangspunkt der Recherche war damals ein Brief an die WoZ-Aussenstelle Bern, in dem eine anonyme Person Bericht erstattete über die im Bau befindliche Anlage (dieser Brief ist hier als PDF einsehbar). Ich überprüfte die anonymen Angaben, indem ich nach Kandersteg reiste. Vielleicht dreihundert Meter nordöstlich des Lötschberg-Eisenbahntunnels führte damals tatsächlich ein riesiger, mit grossen Baumaschinen befahrbarer Tunnel unter die Fisistöcke. Längst gibt es dort von dieser Baustelle keine Spuren mehr.

[2] Fredi Lerch: Der neue Bundesratsbunker, in ders.: Mit beiden Beinen im Boden. Zürich (WoZ im Rotpunktverlag) 1995, S. 269 ff.

[3] Lerch, a.a.O., S. 277.

(22.02.1998; 07.08.2017; 15.03.2018)

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