Werkstücke und Stückwerke

«H. liest aus dem Roman ‘La storia’ von Elsa Morante vor: ‘Nun rollten aber in dem beschränkten und unerwachsenen Geist dieses Weibleins, während es blindlings durch seine kleine Mietswohnung lief, auch die Bilder der Menschheitsgeschichte (der Weltgeschichte) ab, die es wie die zahllosen Windungen unendlichen Meuchelmordes wahrnahm.’ (S. 619) Fragmente der Menschheitsgeschichte, die durch meinen beschränkten und unerwachsenen Geist rollen und ein Amalgam bilden mit den Geschichten, die ich für mein Leben halte – das ist der Stoff der Weltgeschichten, von denen es so viele wie Menschen gibt, vertrackte Stückwerke.

Vertrackte Stückwerke wären aber auch interessante Formen der Textdarstellung: Als Kopfwerker zuerst mit der Freude am Einmaligen, am fokussierten Weltfragment das einzelne Werkstück formen und schleifen. Dann zum nächsten gehen. Und wieder zum nächsten. Und immer so weiter. Die fertigen Werkstücke müssten zu Konstellationen gruppiert werden, die nie ein Ganzes bilden würden, sondern immer Stückwerk blieben: Dokumentation eines Denkens, das kaleidoskopartig um Motivknoten kreist. Gesucht wäre nicht ‘Wahrheit’ als Zielpunkt stringenter, monokausaler Argumentationsketten, sondern räumlich ausgedehnte Wahrscheinlichkeiten aufgrund polykausaler Motivnetze. Ein Stückwerk wäre so – montiert aus einer beliebigen Anzahl Werkstücken – eine Konstellation von Texten, deren Leben sich in buntem Geflecht von Rück- und Querbezügen vervielfachen könnte, ohne je ein Ganzes – das immer falsch ist – bilden zu müssen: Je grösser die Anzahl Werkstücke, desto weniger wüchse ihre Summe zum Ganzen, sondern im Gegenteil zum immer grösseren Stückwerk (je abgeschlossener der einzelne Teil, desto unabschliessbarer die Zusammenstellung dieser Teile).»

Zitiert nach: «Mezzo del cammin», S, 35.

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