Altersweisheiten

1.

Was in der Jugend Aufbruch ist: Chance, Zukunft, Freiheit, Perspektive, die man sich nicht nehmen lassen, sondern packen will, wird später unmerklich zur verpassten Möglichkeit. Je mehr man das Leben packt, desto mehr zerrinnt es einem zwischen den Fingern. So kippt die Utopie des eigenen Lebensentwurfs in die Illusion: das Leben ist die Chance, die man verpassen muss, wenn man leben will. Was einem später noch zu sagen einfällt, nennt man dann Altersweisheit. Ein schöner Trost.

2.

Morgentoilette. – Opportunitäter, beschimpft mich mein Spiegelbild. Glücklich, antworte ich, wer gehen kann, wenn zu Ende ist, was ihn hergeführt hat.

3.

Rat am Morgen. – Trage achtsam durch den Tag, was dir von dir geblieben ist.

4.

Autobiografie. – Heute ist mir der erste Satz meiner Autobiografie eingefallen: «Sanft hat der Tod mich durch das Leben begleitet.» Vielleicht ist’s auch der letzte.

5.

Vom Sterben. – Wieso soll ich sollen? Genügt es nicht, dass ich müssen muss?

6.

Kunst des Sterbens. – Das halbe Leben habe ich gebraucht, um mich zu finden. Jetzt bleibt das halbe Leben, mich wieder zu verlieren.

7.

Vom Einfachen und vom Schwierigen. – Das Einfachste ist das Schwierigste: zu leben. Das Schwierigste wird das Einfachste gewesen sein: zu sterben.

8.

Lieber betagt als umnachtet.

(18.09.1994; 25.09.1996; 27.08.2000; 19.08.2001; 25.08.+Herbst 2005; 09.01.2006; 22.12.2013; 16.05.+01.06.2018. Die 8 Sätze wurden nach inhaltlichen Kriterien neu angeordnet. So zeigen die chronologisch geordneten Daten bloss, zu welchen Zeiten ich an diesen Sätzen gearbeitet habe – nicht aber, wann an welchem.)

v11.5