Stoffe (wofür?) V: Zwei Novellen

1.

Maifeier. Novelle

Ort: Zwei nebeneinander stehende, identische Einfamilienhäuser in der Agglomeration der Stadt. Zeit: 1. Mai.

Das eine Haus wird bewohnt von einem Mann gegen 60, ein SVPler, mit einem versteckten Leiden geschlagen (künstlicher Darmausgang), dabei gebräunt, straffe Haut, sportlich aussehend und sympathisch im persönlichen Umgang. Er lebt allein im Haus, nachdem ihn seine Frau vor einiger Zeit verlassen hat (weil sie die Krankheit des Mannes nicht mehr ertrug?).

Im anderen Haus lebt die Familie eines SPlers, er frei praktizierender Psychiater, dickleibig, hedonistisch, menschenfreundlich, weil er sich’s leisten kann; seine Frau eine scharfsichtige Intellektuelle, Hausfrau aus Vernunft, erste Schritte für den beruflichen Wiedereinstieg sind gemacht, dem Nachbar, dessen Geschichte sie kennt (über dessen abgehauene Ehefrau, mit der sie weiterhin Kontakt hat) bringt sie Verständnis entgegen und lässt aus Mitleid eine gewisse Nähe zu. Die beiden haben einen halbwüchsigen Sohn, adipositaskrank, PC-Freak, intelligent, dass es weh tut, der als Erzähler fungieren könnte.

Plot grob: Dieser 1. Mai verläuft wie jeder andere in den letzten Jahren. Der SVPler zieht aus Trotz bei Tagesanbruch direkt am Zaun zur Nachbarliegenschaft an der Fahnenstange eine Schweizerfahne hoch. Der SPler geht im Vormittag in die Stadt, um am 1. Mai-Umzug teilzunehmen, und kehrt im frühen Nachmittag mit einer Gruppe von Gleichgesinnten zurück, die er Jahr für Jahr jeweils spontan einlädt. Weil das Wetter gut ist, halten sich Gäste im Garten auf. Eine alleinerziehende Mutter, vom Herrn Doktor zu guten Bedingungen für die Arbeit angestellt (darum macht sie sich überhaupt frei), betreibt einen Bratgrill und sorgt mit der Hausfrau zusammen für das leibliche Wohl der Gäste. Beschrieben wird dieses Gartenfest als Kombination von linkem Gutmenschen-Besäufnis und rechtem Nachbarsressentiment bis nachts der letzte Gast gegangen ist. Als letztes Bild: der Mond über der Schweizerfahne.

Der Stoff wird in drei Teile geteilt, die je aus einer Ich-Perspektive im inneren Monolog erzählt wird:

• Teil 1: Erzähler ist der SVPler (er beobachtet, wie der Nachbar an den 1. Mai-Umzug geht etc.).

• Teil 2: Erzähler ist der halbwüchsige Sohn (der gegen Mittag aufsteht und seine Mutter mit dem SVPler im vertraulichen Gespräch beobachtet und den ersten Teil des anschliessenden Gartenfestes schildert).

• Teil 3: Erzählerin ist die Grillbraterin, die den zweiten Teil des Gartenfestes mit dem Zerbröckeln der Fassaden schildert bis zum Schluss (sie geht als letzte, weil sie ja aufräumen muss und bemerkt deshalb die Schweizerfahne unter dem Mond).

(19.01.; 02.05.2003; 21.12.2004; 31.05.2018)

 

2.

Workfare. Novelle

• Die Idee entstand während der Lektüre von Eva Nadai: Der kategorische Imperativ der Arbeit, in: Widerspruch Nr. 49/2005, S. 19ff. Darin wird aus der «unmittelbaren Praxis der [Workfare-, fl.]Aktivierung» berichtet und unter anderem eine «virtuelle Handelsfirma für Arbeitslose aus dem kaufmännischen Bereich» erwähnt, in der der Arbeitsmarkt simuliert werde: «So kaufen und verkaufen die Übungsfirmen virtuelle Produkte von und an andere Übungsfirmen, verbuchen virtuelle Beträge und bezahlen den arbeitlosen ‘Mitarbeitenden’ virtuelle Löhne, damit diese virtuelle Einkäufe tätigen können und so die virtuelle Wirtschaft in Schwung halten.» Als Kritik fügt sie bei, eine solche Firma diene vor allem als «Konformitätstest», weil so die Arbeitslosen sowohl ihre Arbeitswilligkeit, als auch ihre Arbeitsfähigkeit unter Beweis zu stellen hätten.

• Von den Teilnehmenden in dieser Übungsfirma für kaufmännisch qualifizierte Arbeitslose hätten danach 54 Prozent eine «Stelle bzw. einen Ausbildungsplatz» gefunden. Im Ganzen führe die Workfare-Aktivierung zu einer «vernichtenden Bilanz»: «Die soziale Ungleichheit nimmt zu, die Anzahl der Working poor steigt, die angestrebte Integration der Zielgruppe in den Arbeitsmarkt gelingt nicht im erhofften Ausmass.»

• Die in einer solchen Firma Arbeitenden hätten «Motivations- und Sinnprobleme», beim Programm mitzumachen, und darüber hinaus «gravierende persönliche Probleme: angeschlagene Gesundheit, Alkohol, Drogen, familiäre Probleme, finanzielle Sorgen». Die Leute glaubten «kaum an eine effektive Verbesserung ihrer mit zunehmender Dauer der Arbeitslosigkeit schwindenden Chancen im Arbeitsmarkt». Die Leute erhalten «Bewerbungsunterstützung»: «Standortgespräche, Bewerbungsrollenspiele, Anleitungen zu Bewerbungsstrategien und Erstellen von Bewerbungsunterlagen». In der Konsequenz gehe es hier um eine Erforschung des Selbst, «der Arbeit am Selbst» und um «das Marketing des Selbst», um das «unternehmerische Selbst» des «eigenverantwortlichen» Menschen, um das Ich «als Produkt». Alles ist hier simulierter Ernstfall für Mitglieder einer Reservearmee. Sie werden zu einer bestimmten Selbstzurichtung gezwungen unter Androhung des Ausschlusses aus der gesellschaftlichen Normalität.

• Das Personal in solchen Firmen sei «nicht genügend geschult und zeitlich überlastet». Zudem leide das Konzept solcher Programme an «gravierenden Unzulänglichkeiten» in Bezug auf das verlogene «Vertragsmodell», das «Individualisierungsprinzip der Sozialhilfe, und auf die paradoxen Prämissen»: «Das Gelingen dieser Politik setzt die aktiven und handlungsfähigen Subjekte bereits voraus, die durch die Massnahme erst hervorgebracht werden sollen.»

• In diesem Milieu situiert werden soll ein novellenartig verdichteter Text, der zeigt, wie vor dem Hintergrund von strukturellem Workfare-Zwang ein Protagonist/eine Protagonistin den Versuch macht, sich in einer simulierten Arbeitswelt zur Ich-AG umzubauen und damit die Reintegration in die Gesellschaft zu erreichen. Möglich ist, dass die Person dabei implodiert/scheitert/auf der Strecke bleibt oder dass der Aspekt des Erfolgs offengelassen wird.

Diese Idee einer Novelle habe ich im Herbst 2006 umgesetzt und der Berner Tageszeitung «Der Bund» bei deren Essaywettbewerb beliebt zu machen versucht, was nicht gelungen ist. Der Text ist später in der WOZ abgedruckt worden (siehe: «Wir Ovomaltinebüchsen» nebst angefügtem Kommentar).

(16.02.2006; 17., 31.05.+13.06.2018)

v11.5