Stoffe (wofür?) IV: Ränderpflege

1.

Ausgegrenzt. Eingeschlossen. Eine Doppelreportage. – Bearbeitet würden die Biografien von Rösy Soussy-Stalder[1] und Robert Wenger[2]. Die beiden Geschichten würden dergestalt gegeneinander geschnitten, resp. parallel geschaltet, dass die Darstellung der Einschliessung eines «gemeingefährlichen» Mannes und der Ausschliessung einer «gemeingefährlichen» Frau als zwei Seiten des gleichen ungleichen Geschlechterverhältnisses verstanden werden könnten. Mit der Methode einer Doppel-Sozialreportage würde ein theoretischer Sachverhalt umrissen ohne theoretisierende Darstellung.

2.

Geschichte der (bernischen) Administrativjustiz.[3] – Im Gespräch mit Ducio Trombadori sagt Michel Foucault: «Der Konstruktion des Objekts Wahnsinn entsprach die eines vernünftigen Subjekts, das den Wahnsinn zu erkennen vermochte und das ihn verstand.»[4] Wenn ich in dieser Formulierung «Wahnsinn» ersetze durch «soziale Auffälligkeit» (im Sinn von «Arbeitsscheu», «Liederlichkeit», «Debilität», «moralische Minderwertigkeit», «Vagantität» usw.), bin ich am Ausgangspunkt meiner Fragestellung: Wie ist die Geschichte des «vernünftigen Subjekts» beschreibbar, das diese «soziale Auffälligkeit» zu konstituieren und zu sanktionieren begann? Welche Rolle spielte dabei der juristische und der medizinisch-psychiatrische Diskurs? Wie es bei Foucaults Auseinandersetzung mit dem «Wahnsinn» um die Problematisierung des «Vernunft»-Begriffs ging, würde es bei der Auseinandersetzung mit der «sozialen Auffälligkeit» um die Problematisierung der «Normalität» in einer sich laufend rigider normierenden hochindustrialisierten Gesellschaft gehen.[5]

[1] fl.: «A NOUS LAMORT – LAMOUR», WoZ, Nr. 28-30/1990.

[2] fl.: Ein Leben lang administrativ versorgt», WoZ Nrn 35, 36, 38, 39/1997.

[3] Das Motto wäre bereits gefunden: «Aus all diesen Erfahrungen […] tauchte ein Wort auf, ähnlich denen, die mit unsichtbarer Tinte geschrieben wurden und auf dem Papier sichtbar werden, wenn man es mit dem richtigen Reagens behandelt: das Wort Macht.» (Michel Foucault: Der Mensch ist ein Erfahrungstier. Frankfurt am Main [Suhrkamp] 1996, S. 98f.)

[4] Michel Foucault, a.a.O., S. 48f.

[5] Was ich damals noch nicht wusste: Dass Foucault die «Normalisierung» zentral thematisiert hat: «Die Normalisierungsgesellschaft ist eine Gesellschaft, in der sich entsprechend einer orthogonalen Verknüpfung die Norm der Disziplin und die Norm der Regulierung miteinander verbinden.» (Michel Foucault: In Verteidigung der Gesellschaft. Vorlesungen am Collège de France [1975–76]. Frankfurt am Main [Suhrkamp] 1999, S. 299).

(05.07.1997; 21.10.2005; 16.+31.05.2018)

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