Stoffe (wofür?) III: Friedli und Leontieff

1.

Friedlis Ende. – Der Sprachforscher Emanuel Friedli (1846-1939) habe, nachdem er seine sieben grossen «Bärndütsch»-Bände veröffentlicht hat, am Tag seines Todes, nach einem Schwächeanfall noch einmal zum Bewusstsein kommend, zur herbeigeeilten Nachbarin gesagt: «I möcht danke, danke – wäm darf i?»[1] Eine Novelle schreiben, die die Psychologie des Knechtischen zu fassen versucht, aufgezeigt am ehemaligen Verdingbub Friedli, der ab 1856 in Gotthelfs Armenerziehungsanstalt Trachselwald erzogen worden ist. (Und neben dem er heute an der Südseite der Kirche Lützelflüh begraben liegt.)

2.

Leontieffs Tat. – Tatjana Leontieff ist Medizinstudentin und Mitglied der russischen Sozialrevolutionäre. Am 1. September 1906 erschiesst sie im Speisesaal des Hotels Jungfrau in Interlaken den französischen Rentner Charles Muller, weil sie ihn irrtümlicherweise für den russischen Innenminister Iwan Durnowo hält, der zwischen dem 25. Juli und dem 6. August 1906 tatsächlich dort abgestiegen war. Für den Mord wird sie zu vier Jahren Zuchthaus verurteilt.[2] Eine Novelle schreiben, die den utopischen Aufbruch als Herumirren in einem Labyrinth darstellt.

[1] Peter Sommer: Die zwei Leben des Berndeutschforschers Emanuel Friedli 1846-1939: Biographisches zum 150. Geburtstag. Münsingen (Fischer) 1996, S. 15 + 108.

[2] Erwin Marti: Carl Albert Loosli 1877–1959. Biographie Band 1. Zürich (Chronos) 1996, S. 195 und L’impartial, 27.03.1907.

(01.+04.02.1997; 30.05.+11.06.2018)

 

Nachtrag

In seinen «Erinnerungen» berichtet der Psychiater Max Müller, dass er 1922/23, da er als Assistenzarzt aus der Irrenanstalt Münsingen kommend zur Weiterbildung am Burghölzli in Zürich arbeitete, aus Münsingen erfahren habe, «dass Tatjana Leontiew an ihrer Tuberkulose gestorben war. Dieses zarte, schon ältere Fräulein hatte als junges Mädchen und als russische Emigrantin in einem Hotel in Interlaken einen russischen Minister erschiessen wollen, an seiner Stelle aber einen biederen deutschen Kaufmann tödlich getroffen, worauf sie wegen Mord zu lebenslangem Zuchthaus verurteilt worden war. In der Haft war bei ihr eine Schizophrenie ausgebrochen, und seit Jahren lebte sie nun in Münsingen, ihrer Tuberkulose wegen bettlägrig, und fast ununterbrochen damit beschäftigt, schmale Papierstreifen voll zu kritzeln und sie nachher zusammenzurollen; sie besass Schachteln über Schachteln voll dieser Röllchen. Am Tage nach ihrem Tode, so berichtete man mir, hatte man dies alles zu verbrennen in die Heizung geschafft […]. Als der Heizer an diesem Abend mit seinem Windlicht – eine elektrische Beleuchtung gab es in diesem Raume nicht – die Heizung betrat und dort den Haufen herumliegender Röllchen sah, ergriff er eines davon und entfaltete es. Es stand darauf, Tajana werde dem, der es lese, nach ihrem Tode erscheinen. In diesem Moment habe es einen Knall gegeben und das Licht sei erloschen, so dass der Heizer schreckensbleich hinausstürzte und die Pfleger alarmierte.» (Max Müller: Erinnerungen. Erlebte Psychiatriegeschichte 1920-1960. Berlin/Heidelberg/NewYork [Springer] 1982, S. 33)

(6.1.2019)

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