Dr Diräktr

Einen kleinen journalistischen Auftrag erledigend sitze ich gedankenverloren im Schosshalden-Bus und fahre morgens um halb neun die Berner Altstadt zum Bärengraben hinunter, um die neuste Version des «Chreisu-Bären»[1] zu fotografieren. Als ich aufblicke, schiesst es mir durch den Kopf: «Dr Diräktr!» Blitzartig schaue ich weg: Vor mir, bei der automatischen Türe, steht F. S., unbestimmt in meine Richtung blickend.

S. war während meiner Lehrerausbildung 1970 bis 1974 Direktor des Staatlichen Lehrer- und Lehrerinnenseminars in Langenthal; ein Mann, so meine Erinnerung, dessen bigotte Zuvorkommenheit, falsche Anbiederung und hinterhältige Hilflosigkeit nur schlecht seine direktorialen Ungeschicklichkeiten überdeckte. Manchmal steigerte sich sein Unvermögen gegenüber einer Welt, die von ihm dauernd Entscheide forderte, zu einer beängstigenden Verwirrtheit. In solchen Momenten konnte er nur auf das Mitleid seiner Zöglinge hoffen, das sich aus der einzuübenden Menschenfreundlichkeit der angehenden Schulmeister nährte.

Nun steht dieser Mann also plötzlich vor mir im Bus, geht dann an mir vorbei zum hinteren Ausgang, balanciert wieder ganz nach vorn und stellt sich so in die vorderste Tür, dass bei der nächsten Haltestelle die Aussteigenden nur mit einem «Exgüse» an ihm vorbei turnen können, worauf er ihnen – wie mir scheint – mit einer übertriebenen Geste zuvorkommender Hilfsbereitschaft den Weg freigibt.

Am Nydeggstalden steigt er aus. Als er draussen dem Bus entlang an mir vorbeigeht – halb Flaneur, halb verängstigtes Kind – erschrecke ich: Da geht ein alter Mann. Vielleicht hat er sich zuvor den Aussteigenden nur deshalb in den Weg gestellt, um sich durch deren «Exgüse» vergewissern zu können, dass er noch vorhanden ist.[2]

[1] Ein umstrittenes Kunstobjekt, das damals einige Zeit im Kreisel der Bärengraben-Kreuzung aufgestellt war.

[2] Nachdem ich auf 1. November 1995 aus dem Weissenbühlquartier ins Schosshaldenquartier umgezogen bin, wurde der Schosshaldenbus mein täglich benutztes Verkehrsmittel. Seither habe ich S. ab und zu gesehen. Gegrüsst habe ich ihn nie: Es gibt ein Recht, Leute, die man während einer bestimmten Zeit hat grüssen müssen, später nicht mehr grüssen zu wollen; Leute, mit denen man quitt ist für dieses Leben, ohne dass noch etwas gesagt werden müsste. – S. ist am 7. Februar 2015 verstorben.

(10./12.02.1993, 23.02.2005; 15., 29.05.+11.06.2018; 26.5.2022)

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