Ein Besuch bei Peter Zuber

Im Zusammenhang mit meiner grossen Recherche zur Subkultur der Stadt Bern vor 1968 habe ich heute den Arzt Peter Zuber besucht, um mit ihm über den Gammlerpoeten René E. Mueller zu sprechen, den er als Medizinstudent Anfang der 1960er Jahre kennengelernt hat. Ich steige zu Fuss hinauf zum Waldheim, wo er mit seiner Familie neben dem mächtigen Sandsteinbruch oben am Ostermundigenberg lebt: Januar ohne Schnee. Ich kenne den Weg. Ich war schon einmal hier oben zu Besuch: Vor Jahren schrieb ich einen Artikel über die Mord und Totschlag androhende anonyme Post, die das Ehepaar Heidi und Peter Zuber damals schachtelweise erhielt, weil es sich öffentlich und entschieden für einen menschlicheren Umgang mit Flüchtlingen einsetzte.

Als Zuber mir die Tür öffnet, fällt mir auf, wie dünn und knochig er geworden ist. Deshalb gebe ich seine Frage zurück als er sagt: «Wi geits Öich?» – «Guet, und Öich?» – «Körperlech schlächt, seelisch guet», sagt er und fährt vorausgehend im Plauderton fort, er habe seine Arztpraxis unten im Dorf endgültig schliessen müssen, weil er an einer ernsthaften, «zehrenden» Lungenkrankheit leide. Dann sitzt er mir schwer atmend gegenüber, lächelt, sagt, ein paar Schritte könne er schon noch machen, aber nicht mehr viel mehr. Das sei nicht weiter schlimm, er sei halt schon alt, bereits Grossvater und überhaupt würden auf der Welt ja die wenigsten Menschen so alt, wie er jetzt schon sei. So alt sei er doch gar nicht, kaum sechzig, sage ich unvorsichtigerweise. Er korrigiert lächelnd: «Vierundfünfzig.»

Dann beginnt er von Mueller zu erzählen, ermüdet aber schnell und überspringt Jahre, um an ein Ende zu kommen. Einmal steht er auf, um mir einen Kaffee zu machen. Dann kommt seine Tochter herein, vermutlich jünger als dreissig, schwankend, verladen, redet mit schwerer Zunge, Händedruck eines alten Menschen. Der Vater gibt ihr ein Stück Cake, sie trinkt ein Glas Wasser, hat auch einige Erinnerungen an Mueller, dann geht sie, kommt noch einmal zurück, ob sie den Staubsauger brauchen dürfe, sie wolle putzen.

Danach erzählt Zuber von seiner Tochter, respektvoll und distanziert wie von einem fremden Menschen: Es habe Zeiten gegeben, da sei er nachts durch den Wald geirrt und habe aus Verzweiflung mit einem Revolver in die Bäume geschossen, weil er seine Tochter nicht vor diesem Weg habe bewahren können. Sensibel sei sie gewesen, künstlerisch begabt, dann sei sie in die Drogen gekommen, Polytoxikomanin, es habe Tage gegeben, wo sie morgens um elf kriechend auf allen vieren in die Küche gekommen sei. Und jetzt: AIDS im Endstadium. Gestritten habe er mit ihr damals, immer wieder – jetzt nicht mehr. Eines Tages habe er sich gesagt, er wolle sich einfach freuen, wenn er seine Tochter sehe und nicht mehr mehr wollen. Was sei schon der Sinn des Lebens? Vielleicht habe sie ja jetzt schon den ihren besser und restloser erfüllt, als er den seinen. Seit er nicht mehr streite, sei es für sie beide besser.

Nach einer Pause erkundigt er sich, wo wir stehen geblieben seien und fährt – mit länger werdenden Pausen – fort mit seiner Erzählung über Mueller. Als ich gehe, gibt er mir die Hand, seine linke legt er leicht auf meinen rechten Ellbogen, und lädt mich ein, wieder einmal vorbeizuschauen. Wir sagen: «Uf Widerluege.»

(14.01.1993; 26.04.+07.05.2018)

 

Nachtrag

Gut sechseinhalb Jahre später, am 9. November 1999, ist Peter Zuber (1939-1999) gestorben. Als die Gemeinde Ostermundigen ihm zu Ehren eine Strasse in «Dr.-Zuber-Strasse» umbenannt hat, gab seine Frau dem SRF-Regionaljournal Bern Freiburg Wallis am 11. September 2016 ein Interview. Auf der Website des Sendegefässes wird sie in einem zusammenfassenden Bericht zitiert mit der Aussage: «Wenn ich zurückschaue, kann ich sagen, es war alles gut und richtig. Ich bereue nichts.» Gesagt hat sie aber auch, für ihre Kinder sei die Situation zuhause wohl schwierig gewesen: «‘Wir hatten das Gefühl, sie seien sehr selbstständig und bräuchten uns nicht. Da haben wir uns wohl geirrt.’ Von den vier Kindern starb ein Junge schon mit zweieinhalb Jahren an einer Krankheit, eine Tochter mit 31 an AIDS. Natürlich mache man sich Gedanken darüber, ob man als Eltern mitschuldig sei, wenn ein Kind in die Drogen abstürze. Auch wenn nicht klar sei, was genau der Grund war. Und wie wird man mit solchen Schuldgefühlen fertig? ‘Indem man die Schuld zugibt’, sagt Heidi Zuber als Sonntagsgast im Regionaljournal. ‘Wir hätten uns mehr um unsere Kinder kümmern sollen.’»

(26.04.+1.5.2018)

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