Plädoyer für eine prähistorische Rationalität

Bei Wolfgang Röd finde ich im Abschnitt über die vorsokratischen griechischen Philosophen den Satz: «Keineswegs war, wie vermutet werden darf, das griechische Denken ursprünglich ausnahmslos von mythischen Vorstellungen beherrscht, d.h. es dürfte keine Zeit gegeben haben, in der man alle Tatsachen und Vorgänge als Ergebnis des Wirkens göttlicher und dämonischer Mächte begreiflich zu machen suchte.» [1]

Nach meiner These wäre ja tatsächlich das Umgekehrte richtig: dass die Erfindung der göttlichen und dämonischen Mächte in einer menschheitsgeschichtlich späten Phase stattfand und sich aus dem sozialen Sprachuniversum über Jahrzehntausende der Warum?-Diskurs als gesellschaftlich dominierende, also weitgehend hegemoniale Vorstellung entwickelt hat. Diese Entwicklung bedeutete, dass der soziale Belldiskurs der Stammesführer und Krieger als brachiale Herrschaftstechnologie zunehmend konkurrenziert wurde durch eine logozentrische Herrschaftstechnologie, die den Belldiskurs metaphorisch überbot durch Antworten auf unbeantwortbare Fragen. Diese Konkurrenten waren die Magier, Schamanen und Priester.

Röd sagt im weiteren, die Entstehung von Wissenschaft und Philosophie sei durch «die Rationalisierung des Denkens» möglich geworden.[2] Als Wissenschaftler argumentiert er mit dem Belegbaren, also mit den schriftlichen Quellen. In diesem Fall könnte diese wissenschaftlich notwendige Selbstbeschränkung allerdings zu einer Verkehrung von Ursache und Wirkung und insofern zu fundamentalen Fehlschlüssen führen.

Spekulativ sind für mich folgende Thesen diskutabel:

• Die Annahme, das rationale Denken sei aus dem irrationalen allmählich entstanden, ist ein Irrtum, der geisteswissenschaftlicher Methodik geschuldet ist. Richtig ist das Umgekehrte, und zwar dergestalt, dass bereits Prä-Hominiden – und in einem weiteren Sinn alle Tiere – rational (im Sinn von subjektiv folgerichtig und objektiv der Situation angepasst adäquat) denken können müssen, um zu überleben. Deshalb ist es wahrscheinlich, dass die ersten unsystematischen Ansätze von «Wissenschaft» und «Philosophie» nicht bei den schriftlich belegten Ägyptern, Babyloniern, Indern, Chinesen oder griechischen Vorsokratikern sich zeigen, sondern Jahrzehntausende vor den ersten schriftlichen Belegen anzunehmen sind. Ohne solches Denken wäre keine prähistorische Kultur möglich gewesen und Thales hätte Milet zuerst selber planen und erbauen müssen, bevor er als Naturphilosoph hätte in die Geschichte eingehen können.

• Als Folge des Warum?-Diskurses entstand neben dem sozialen Sprachuniversum allmählich das zweite, konkurrierende der Magier, Schamanen und Priester. Dieses existentielle Sprachuniversum federte mit den Jahrtausenden die wohl jederzeit ziemlich sozialdarwinistisch interessengesteuerte Rede im sozialen Sprachuniversum mit moralischen und ethische Maximen ab (eine späte – nicht frühe! – Form dieses Maximendiskurses sind die zehn Gebote in der Bibel).

• Das, was Röd als die «Entstehung von Wissenschaft und Philosophie» bezeichnet, ist aus dieser Sicht die erste schriftlich dokumentierte Denkbewegung, die sich mit wissenschaftlicher und philosophischer Argumentation emanzipierte vom offenbar damals hegemonial gewordenen existentiellen Diskurs. Der vorsokratische Diskurs könnte sich gegen eine dekadente Priesterkultur gewendet haben, die mit ihrem metaphorischen Diskurs die letztliche Unerklärbarkeit der Welt zur Angstmacherei missbrauchte und darauf ihre Macht baute. «Wissenschaft» und «Philosophie» können als Waffen eines rationalistischen Gegenangriffs des ursprünglichen sozialen Diskurses gesehen werden gegen den zwischenzeitlich zu grosser Macht gelangten existentiellen Diskurs der Priester. Übrigens spricht Röd in Bezug auf die in Milet wirkenden Philosophen von einer «milesischen Aufklärung»[3], was aus dieser Sicht einleuchtet. Vermutlich ist Aufklärung stets eine Gegenreaktion auf die zu geistiger Dekadenz neigende Herrschaft.

[1] Wolfgang Röd: Geschichte der Philosophie. Band I. München (Beck) 1976, S. 21. – In der Darstellung der Vorsokratiker (S. 30-49) betont Röd wiederholt die allmähliche Überwindung vorrationaler, «den Mythen verhafteter Überzeugungen» durch ein «naturphilosophisches» resp. «metaphysisches» Denken. So sehr das so zu sein scheint, so sehr fragt sich andererseits: Wie ist es zu erklären, dass dem rationalen Denken ein Denken vorausgegangen sein soll, das sich Naturerscheinungen, physikalische und geometrische Phänomene nicht erklären konnte, weil es mythisch war? Ist nicht die Annahme abwegig, dass sich die Menschen als Spezies über Jahrzehntausende gegen eine feindliche Natur durchzusetzen vermochten, wenn sie die Wirklichkeit nicht anders denn als göttergesteuert wahrzunehmen vermocht haben? Vorausgesetzt, Denken und Handeln haben überhaupt einen Zusammenhang: Kann eine ganze Spezies fortgesetzt ausschliesslich das «Falsche» denken und trotzdem das «Richtige» tun, um zu überleben? Zur Zeit des Naturphilosophen Thales von Milet gab es zum Beispiel bereits Städte und Schifffahrt: Wie hat man sich die Entstehung des prähistorische Wissens – sein Verhältnis zur Praxis, seine Tradierung – vorzustellen, das solche kulturelle Leistungen möglich gemacht hat? Wenn Röd die Überwindung von vorrationalen, «den Mythen verhafteten Überzeugungen» konstatiert, so heisst das nicht, dass es zuvor eine irrationale Weltsicht gegeben hätte, sondern dass damals eine irrationale Weltsicht hegemonial geworden ist.

[2] a.a.O., S. 15.

[3] a.a.O., S. 48. – Während sich die Milesier mit der Ersetzung der «mythischen Theo- bzw. Kosmogonien durch naturphilosophische Theorien» befassen und so «die traditionellen Göttervorstellungen» überflüssig zu machen versuchen, «dekonstruiert» insbesondere Xenophanes «die anthropomorphen Anschauungen von den Göttern» (S. 76f). Laut Röd sei Xenophanes ein «in gewissem Sinne […] kritischer Philosoph» (S. 80) gewesen, nicht zuletzt auch, weil er «die Vorstellungen von der Herrschaft der Götter über die Menschen als Projektionen menschlicher Beziehungen» interpretiert habe (S. 77).

(02.+03.03.; 29.04.2005; 06., 16.+24.04.2018)

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