Was die Priester von den Dolmetschern lernten

Der Mensch wurde in jenem Moment zum Menschen, in dem er verstand, dass Laute kognitiv codiert werden können.

Genauer: Dass mit einem einzelnen Laut etwas Bestimmtes ausgedrückt werden kann, wissen auch andere Tiere. Der Mensch lernte, Lautfolgen zu Bedeutungsketten zu formen und hörend zu entschlüsseln.

Dieses Codierungs- und Decodierungsspiel stelle ich mir in den verstreuten, kleinräumigen Stammeskulturen des frühen Menschen als sehr variantenreich vor: Grundsätzlich kann ja jeder Laut alles bedeuten. Das Entscheidende ist, dass darüber, was ein bestimmter Laut bedeuten soll, innerhalb der Gruppe ein Konsens und dadurch mit der Zeit ein soziales Sprachuniversum hergestellt werden kann.

Weil sich Laute und Bedeutungen beliebig zuordnen lassen, entstanden in den verschiedenen Stammeskulturen unterschiedliche Sprachen, die die Verständigung zwischen den Stämmen schwierig oder unmöglich machten. Weil deshalb die sprachliche Ausmarchung von Interessengegensätzen zwischen Stämmen nicht leichthin möglich war, musste der Konsens mittels Gewaltanwendung durchgesetzt werden.

Darum stelle ich mir vor, dass in der Frühzeit der Menschheitsgeschichte die bedeutendsten Kulturschaffenden jene waren, die das Geschick und die Fähigkeit hatten, mit anderen Stämmen in friedlichen Austausch zu kommen und andere Sprachen verstehen und reden zu lernen. So konnten sie bei Bedarf als Dolmetscher fungieren, Gewaltanwendung im Alltag unnötig machen respektive zur Ultima Ratio zurückzustufen.

Von dieser kulturellen Leistung liessen sich später jene inspirieren, die die priesterliche Gegenmacht zur Stammesführung begründeten: Statt zwischen zwei lautlich verschiedenen sozialen Sprachuniversen zu vermitteln, wie es die Dolmetscher zwischen den Stämmen taten, spalteten sie nun ihr eigenes soziales Sprachuniversum in zwei bloss metaphorisch aufeinander bezogene Bedeutungsschichten auf und installierten sich selbst dazwischen als Dolmetscher. So machten sie sich zur Lösung eines Problems, das sie selber geschaffen hatten. Dafür boten sie als Dienstleistung Worte des Trostes gegen das Unabänderliche um den Preis, dass sich die Getrösteten zur Priesterkaste in Glaubensabhängigkeit zu begeben hatten.

So wird verständlich, dass Priester zu allen Zeiten ein Interesse daran hatten, das Sprachuniversum, das sie hüteten, als Glaubenssache zu sakralisieren, das heisst: als Geschäftsgeheimnis zu verteidigen.

(01., 08.02.2005; 06., 16.+24.04.2018)

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