Die Angst vor dem sozialen Tod

Die Deregulierung der Arbeitsbedingungen mag eine wirtschaftliche Massnahme sein zur Optimierung des Einsatzes von Humanressourcen. Sie greift aber auch in die sozialen Verhältnisse ein. Deregulierung bedeutet aus der Sicht der Arbeitnehmenden eine tendenzielle Destabilisierung und von Fall zu Fall eine akute Bedrohung der eigenen sozialen Position. Ein Aspekt von Deregulierung der Arbeitsbedingungen ist deshalb die Produktion von sozialer Angst: Angst, bei Weigerung entlassen oder durch die verschlechterten Arbeitsbedingungen aus den sozialen Zusammenhängen, in denen man lebt, gedrängt zu werden. Angst vor dem sozialen Abstieg also.[1]

Wie jede Angst ist auch die soziale nicht auf ein bestimmtes furchtmachendes Phänomen gerichtet. Sie ist die Empfindung des Ausgeliefertseins an ein Unbeeinflussbares, dem man nicht zu entkommen vermag. Das Kalkül der Deregulierenden: Die systematische Produktion von sozialer Angst treibt die Menschen zu Sonderleistung. Soziale Angst ist zwar krankmachend, aber Deregulierende profitieren von der zusätzlichen Arbeitsleistung.

Aber hinkt der Vergleich mit den Angsttrieben von Pflanzen nicht? – Tatsächlich, ihre zusätzliche Produktivität ergibt sich aus der existentiellen Angst, sterben zu müssen. Die systematische Produktion von sozialer Angst beim Menschen rechnet also auch mit der Tatsache, dass jeder Menschen mit der existentiellen Angst vor dem Tod lebt. Letztere wird deshalb als soziale ideologisch überformt und instrumentalisiert: Der soziale Abstieg soll subjektiv erfahren werden als ein Sterbenmüssen. Wie sich die Kraft der existentiellen Angst aus der Empfindung des unausweichlichen Ausgeliefertseins an den Tod ergibt, ergibt sich die Kraft der sozialen Angst aus der Empfindung des unausweichlichen Ausgeliefertseins an den sozialen Tod.

[1] Bemerkenswert: Mag sein, dass diese Passage Anfang 2005 noch spekulativ geklungen hat. Eben letzthin habe ich nun das neue Buch des Soziologen Oliver Nachwey gelesen. Es heisst «Die Abstiegsgesellschaft. Über das Aufbegehren in der regressiven Moderne». Berlin (Suhrkamp) 2017/6.

(01.2005; 05., 16.+23.04.2018)

 

Nachtrag

Insofern ich beide Phänomene mit «Angst» bezeichne, muss sich nach dem bisher Gesagten die Angst des existentiellen Sprachuniversums zu jener im zuerst entstandenen sozialen Sprachuniversum metaphorisch verhalten. Drehe ich nun diese Logik um und behaupte, die soziale Angst überforme als Herrschaftsideologie die demnach ursprüngliche existenzielle Angst vor dem Tod, dann folgt daraus, dass es zwischen den beiden Sprachuniversen Wechselwirkungen von ursprünglicher Setzung und metaphorischer Adaption geben muss.

Allerdings könnte ich auch fragen, ob soziale Angst überhaupt als Metapher der existentiellen zu verstehen sei. Ist diese soziale Angst nicht umgekehrt eine ideologische Innovation der deregulierenden Macht? Und wird diese Angst nicht deshalb so wirkmächtig, weil sie sich mit der metaphorischen existentiellen Angst des Menschen vor dem Tod verbindet? Was ist Ursache, was Wirkung?

 (08.02.2005; 05.+16.04.2018)

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