Mein Sohn ist tot

Mein Bürokollege und Filmkritiker E. P. erzählt, in Michael Moores Film «Fahrenheit 9/11» werde eine Frau gezeigt, die die US-amerikanische Armee zuerst verteidige, später aber, nachdem ihr Sohn im Irak-Krieg gefallen sei, heftig kritisiere. Für ihn ist dieses Verhalten ein Beweis ihrer Dummheit.

Ich erkläre dieses Verhalten so: Die Frau hat die Tatsache der Armee und die Tatsache des Sterbens von Soldaten im Kampf vor dem Irak-Krieg ausschliesslich innerhalb des sozialen Sprachuniversums gedacht. Mit dem Tod ihres Sohnes bricht die existentielle Dimension in diesen Diskurs ein: Die soziale Spekulation wird zur existentiellen Tatsache. Das Wissen darum, dass es das grösstmögliche Berufsrisiko eines Profis – zum Beispiel eines Soldaten – ist, in Ausübung des Berufs zu sterben, wird zur Einsicht: Mein Sohn ist tot.

(22.10.2004; 23.04.2018)

 

Nachtrag 1

Vor dem Hintergrund der These von den beiden Sprachuniversen bedeutet diese Episode mehr: Veränderte Lebensumstände, die als Schicksalsschläge erfahren werden, können den unbewussten Perspektivewechsel zwischen den Sprachuniversen hervorrufen: Die patriotische Befürwortung der Armee, die im Irak einen gerechten Krieg führen gehe, um Saddam Husseins Massenvernichtungswaffen unschädlich zu machen (die sich später als Propagandalüge der US-amerikanischen Kriegsfraktion herausgestellt haben), wird zur Wahrheit: Mein Sohn ist tot, weil ihm die Armee befohlen hat, in den Irak zu gehen, um Krieg zu führen.

Ich meine auch jetzt nicht, dass diese Frau «dumm» sei. Sie hat in einer sehr schlimmen Weise die Erfahrung machen müssen, dass die Sprache im sozialen Universum nie wahr ist – und jene im existentiellen Universum nie gerecht.

(05.+16.04.2018)

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