Notizen während einer Lektüre[1]

1.

Wenn die Widersprüche rundum und gleichzeitig als grelle Blitze einschlagen, dann haben die Wörter keine Schattenwürfe mehr. In diesem Gewitter sind Wörter nie wahr, sondern stets unbewertbar.

2.

Wie kann ich eine neue Welt mit lauter alten Wörtern sagen?

3.

Jede Gegenwart hat einen in der Geschichte gewordenen avanciertesten, in der Sprache geronnenen Erkenntnisstand. Spracharbeit heisst, ihn ins Unbekannte des Noch-nicht-Sagbaren zu überschreiten.[2]

4.

Den Begriff gegen sich selber wenden. – Diese Überschreitung ins Unbekannte des Noch-nicht-Sagbaren ist nur zu erreichen durch den Versuch nicht-identischer Setzung von Begriffen; Begriffe aber sind die «Wiederkehr erkennbarer Entitäten» (S. 23): «Gibt es eine Möglichkeit, den Begriff, der ansonsten dazu tendiert, uns in die Gleichheit einzusperren, so zu handhaben, dass er zum Schlüssel wird, welcher uns den Zugang zur Differenz und zum Neuen öffnet?» (S. 24) Diesen Prozess der Überschreitung des Begriffs durch Denken fasst Adorno als «Dialektik»: «Denken braucht nicht an seiner eigenen Gesetzlichkeit sich genug sein zu lassen; es vermag gegen sich selbst zu denken, ohne sich preiszugeben; wäre eine Definition von Dialektik möglich, so wäre das als eine solche vorzuschlagen.»[3]

5.

Nach dem Abschliessen eines Gedichts stets das klare Wissen, gemessen am eigenen Anspruch gescheitert zu sein. Andererseits weiss ich in einem solchen Augenblick jeweils deutlicher als sonst, dass das Vorliegende, das gescheiterte Etwas, dem Nichts des abstrakten Anspruchs doch unendlich überlegen ist.

6.

Dialektische Poesie. – Jede Aussage, jedes Bild so anlegen und formulieren, dass darin sein Gegenbild, seine Widerrede aufscheint; und zwar so, dass unentschieden bleibt, wo die «Wahrheit» liegt (sie ist der aufgezeigte Widerspruch; «wahre» Aussagen müssen demnach immer paradox sein).[4]

7.

Verwandt mit diesen Überlegungen ist mein journalistisches Programm: Ich sage nicht die «Wahrheit»; ich sage: Was du sagst, ist auch nicht wahr. Gegeninformation dialektisch: Die unterdrückte Seite von etwas zur Sprache bringen, das allenfalls in der widersprüchlichen Gesamtheit «wahr» wäre. Weil dieses Gesamte immer paradox, also nicht politikabel im realpolitischen Sinn ist, bleibt es auch dem sozialkritischen Journalismus weitgehend verschlossen.

8.

Wie sehen die Krater aus auf der Rückseite des Wortes «Mond»?

9.

Sprachuniversum: Was hat mir eigentlich die Nacht zu sagen zwischen dem unsicheren Flackern der einzelnen Begriffe?

[1] Gemeint ist die Lektüre von: Frederic Jameson: Spätmarxismus. Adorno und die Beharrlichkeit der Dialektik. Hamburg/Berlin (Argument-Verlag) 1992.

[2] Falsch wäre jedoch, diese avancierteste Sprache mit dem Begriff «Fortschritt» in Zusammenhang bringen zu wollen. Erkenntnis ist eine gallertige Masse, die sich heute in diese, morgen in jene Richtung am weitesten ausdehnt. Was im Moment als zuvorderst erscheint, mag schon bald als zuhinterst erscheinen und wird mit grosser Wahrscheinlichkeit danach für lange Zeit unbeachtet am Rand vor sich hinwesen, wenn es nicht in einem unbeachteten Augenblick unwiederbringlich ins Vergessen wegbricht. (Nachtrag, 8.3.2008)

[3] Theodor W. Adorno: Negative Dialektik. Frankfurt (Suhrkamp) 1975, S. 144.

[4] Was allerdings nicht Adornos Meinung zu sein scheint: «Dialektik ist, als philosophische Verfahrensweise, der Versuch, mit dem ältesten Medium der Aufklärung, der List, den Knoten der Paradoxie zu entwirren. Nicht zufällig war das Paradoxon seit Kierkegaard die Verfallsform von Dialektik.» (Adorno, a.a.O. S. 144f. – Nachtrag, 08.03.2008)

(Anfang Mai 1992; 20.03.2001; 08.03.2008; 20.+27.03.2018)

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