Lyrische Sprache hat kein Gegenüber

Wiederum ausgehend von Adornos Diktum im «Parataxis»-Aufsatz[1], wonach die «Gefahr der Sprache» darin bestehe, «an ihr kommunikatives Element sich zu verlieren und ihren Wahrheitsgehalt zu verhökern», folgere ich, dass es zwei grundsätzlich verschiedene Formen der Sprachgestalt gibt: Sprache als Tauschmittel – als Münze – und Sprache als unveräusserliches Mittel, das keinen Tauschwert hat respektive, falls vorhanden, diesen verweigert. Im letzteren Fall ist Sprache das Mittel zur Reflexion – wie unvollkommen auch immer.

In dieser Differenzierung würde Sprache als Münze der Kommunikation dienen, als unveräusserliches Mittel der (lyrischen) Abbildung. Letztere wäre bildlicher Reflex, kommunikativ verstummter Spiegel der Welt.

Und umgekehrt: Wer lyrisch spricht und auf Antwort wartet, ist ein Scharlatan: Nur wer durch den «kommunikativen Tod»[2] gegangen ist, kann lyrisch sprechen (sprechen hier als unversöhnlicher Gegensatz zu «etwas sagen»).

Und daraus: Lyrische Sprache braucht kein Gegenüber. Genauer: Lyrische Sprache hat kein Gegenüber.

[1] Theodor W. Adorno: Parataxis – zur späten Lyrik Hölderlins. Gesammelte Werke 11: Noten zur Literatur. Frankfurt am Main (Suhrkamp) 2015/5, S. 459.

[2] Ferruccio Rossi-Landi: Sprache als Arbeit und als Markt. München (Carl Hanser Verlag), 1974, S. 101.

(27.04.1993; 09.11.2001; 20., 27.03.+03.04.2018)

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