Poesie kommuniziert nicht

Bei der Arbeit an den Gedichten wird mir immer wieder bewusst, dass ich bei diesem Schreiben nicht Kommunikation suche, sondern Erkenntnis mittels Sprache. Für viele, gerade auch kritische Geister, die sich dem habermas’schen «kommunikativen Handeln» verpflichtet fühlen, ist eine solche Suche illusionär. Ihnen ist die Sprache ein Instrument, um Kommunikation herzustellen, ein Mittel zum Zweck der «diskursiven Vernunft». Für sie muss demnach gelten, dass Sprache, die nicht kommuniziert, keine sein kann. Aber ist – ein schiefes Bild, ich weiss – ein Mensch, der nicht arbeitet, kein Mensch? Letzteres ist durchschaut als kapitalismuskompatibles Ideologem protestantischer Arbeitsethik: Wer nicht arbeiten will, soll auch nicht essen (im 20. Jahrhundert von Hitler und Stalin gleichermassen aus dem 2. Tessalonicher-Brief von Paulus abgekupfert). Das gleiche Ideologem auf die Diskursethik angewandt, würde ungefähr lauten: Wer nicht mitreden will, soll auch nichts zu sagen haben. – Dieser Meinung bin ich nicht.

In meiner poetischen Arbeit gilt mir Kommunikation als Instrumentalisierung von Sprache, als Ausdruck «instrumenteller Vernunft». Kommunikation richtet Sprache zu zum Zweck der argumentativen Einflussnahme. Wer kommuniziert, will etwas über die Sprache hinaus, sei’s Selbstpositionierung innerhalb des herrschaftsfreien Diskurses, sei’s Abwehr eines fremden Machtanspruchs oder Formulierung eines eigenen. Kommunikation ist strategisch eingesetzte Sprache. Jedes Wort wird auf ein (verdecktes) Ziel hin eingesetzt. Die naive Rezeption, die von kommunizierter Sprache als interesselos Abbildendem ausgeht, wird systematisch manipuliert, das heisst: mehr oder weniger kaltschnäuzig in die Irre geführt.

Deshalb auch war für mich die Rede von der journalistischen Objektivität nie etwas anderes als lächerlich. Der Kommunikation als Verständigung im sozialen Raum geht es nie um Objektivität, sondern stets um die Durchsetzung von Interessen. Auch wenn Kommunikation nicht vorsätzlich lügt, ist sie vor allem anderen eine Sozialtechnik zur Einflussnahme und Machtausübung (neben der direkten Gewaltanwendung die wichtigste überhaupt). Man nennt das auch Propaganda, neudeutsch: Public Relations.

Dagegen die poetische Rede: Sie postuliert eine Sprache, die es als sozial wirksame nie wird geben können, eine Sprache ausserhalb der Kommunikation, im utopischen Raum des reinen Abbildens und Bedeutens; eine Sprache, die meint, was sie sagt, nichts will – also keine Interessen vertritt – und sich deshalb ein absichtsloses «Wahrreden» als Voraussetzung für das seltene Gelingen leisten kann. Diese Sprache ereignet sich vorzugsweise an den gesellschaftlichen Rändern, ausserhalb der Diskursivität, und wird von dieser nicht beachtet, weil sie in aller Regel nichts zur aktuell verhandelten Sache beiträgt.

Wenn ich im «geleit» des Konvoluts den Begriff der «Öffentlichkeit» aus der Sicht der Poesie in Frage gestellt habe (siehe hier, S. 6), dann aus der Position der poetischen Suche nach einer Sprache, die sich der Kommunikation verweigert: Poesie braucht keine Öffentlichkeit, weil sie nicht kommuniziert; Öffentlichkeit braucht allerdings die Person, die Poesie herstellt, zur Sicherung ihres materiellen Überlebens (Honorare, Anerkennung, Sozialprestige im Sinn von sozialem und kulturellem Kapital).

Dies aber ist kein poetisches Problem. Es hat schon seine Richtigkeit, dass PoetInnen gefälligst von Luft und Liebe leben sollen.

(23.02.1992; 16.12.1998; 20.+27.03.2018)

 

Nachtrag 1

Seit meinem Aufsatz «wem gehört die sprache?» ist mir Adornos Diktum von der «Gefahr der Sprache […] an ihr kommunikatives Element sich zu verlieren und ihren Wahrheitsgehalt zu verhökern»[1] zur Formel geworden. Diese Formel begründet für mich, warum Poesie nicht kommunizieren kann/will/soll.

Nun finde ich zwei weitere Gedanken, die diesen Sachverhalt umkreisen: Ein «gelungenes Gedicht», hat Wilhelm Lehmann 1956 geschrieben, sei «ein Schweigen, kein leeres, sondern ein erfülltes, ein Schweigen als Tat»: «Das Gedicht […] vollbringt das Wunder, mit Worten zu schweigen.»[2] Und Kurt Marti hat 1974 in einem Gespräch gesagt, er sei auch deshalb zum Schreiben gekommen, weil ihm als Pfarrer das «Formulieren ohne Rücksicht auf einen Adressaten» zum Bedürfnis geworden sei: «Das ist ein bisschen egoistisch, aber das beständig nur altruistische Reden, also im Hinblick auf andere, das verführt irgendwie zu einem gewissen – nun ja, wie soll ich sagen, man ist dann nicht mehr sich selber, man nimmt mehr Rücksicht auf die anderen; aus lauter Wohlmeinen oder Liebe, damit einen die anderen verstehen, verrät man sich nach und nach und kommt nicht mehr zu einem aufrichtigen Ausdruck dessen, was man wirklich denkt und wirklich meint.»[3]

Zusammenfassend: Weil ich, wenn ich mit der Sprache nicht schweige (das heisst: wenn ich kommuniziere), ihren Wahrheitsgehalt verhökere und mich selber verrate, deshalb mache ich Lyrik. Umgekehrt: Mit meiner journalistischen Arbeit, die ja kommunizieren muss, verhökere ich fortgesetzt den Wahrheitsgehalt meiner Sprache. Aber: Wer verrät sich mit seiner Brotarbeit nicht selber? Wer könnte es sich also leisten, diesen Verrat zu tadeln? (Und welche Lyrik würden solche schreiben, die es sich leisten können, diesen Verrat zu tadeln?)

[1] Theodor W. Adorno: Parataxis – zur späten Lyrik Hölderlins. Gesammelte Werke 11: Noten zur Literatur. Frankfurt am Main (Suhrkamp) 2015/5, S. 459.

[2] zitiert nach: Kritisches Lexikon der Gegenwartsliteratur: Stichwort: Erika Burkart, S. 10.

[3] Kurt Marti, in: Gerhard W. Baur/Hans-Rüdiger Fluck: Warum im Dialekt? Bern und München (Francke Verlag), 1976, S. 112.

(27.04.1999; 20.+27.03.2018)

 

Nachtrag 2

Mit dem Schluss des Werkstücks, wonach die Sicherung des materiellen Überlebens «kein poetisches» Problem sei, erhält meine Argumentation – wenn sie denn nicht vollends widersprüchlich wird – zumindest etwas Schwankendes. Mit dem materiellen Überleben im Zusammenhang steht ja die «Rahmen»-Diskussion, die ich als Conditio sine qua non meiner ästhetischen Überlegungen betrachte (siehe hier, S. 236f.). Insofern ich diesen «Rahmen», in dem sich der künstlerische Ausdruck manifestiert, als immanentes poetisches Problem verstanden haben will, ist das materielle Überleben der Kunstproduzierenden sehr wohl ein «poetisches Problem».

Mit der Online-Präsentation des «Stückwerks» verhindere ich zum Beispiel aller Voraussicht nach eine nennenswerte öffentliche Rezeption und damit Einnahmen an ökonomischem und kulturellem Kapital von vornherein. Klar, das mache ich aus Überzeugungen, in denen der «Rahmen» als poetischer Faktor mitgedacht ist. Gleichzeitig muss ich während der Arbeit an diesem Projekt leben können. Da gibt es zweifellos einen Zusammenhang, der die ökonomische Basis der Arbeit zum poetischen Problem macht.

(2006; 20., 27.03.+03.04.2018)

v11.5