Axiomatisch begründete Syntax

In seinen Erinnerungen an «Mein Darmstadt», an die Darmstädter Ferienkurse für Neue Musik, macht der Komponist Jacques Wildberger in Bezug auf seine kompositorischen Anfänge zwei aufschlussreiche Bemerkungen.[1] Einerseits: Er sei in den Zwölfton-Werken Anton Weberns dem «Wunder der stringenten Konstruktion» begegnet; andererseits: Die Auseinandersetzung mit der Dodekaphonie habe ihn an «einen absoluten Neubeginn des Komponierens» geführt, «was meinem Wunsch nach einer axiomatisch begründeten musikalischen Syntax entsprach». Diese Strenge des materialen Denkens war die Faszination, die für mich von Wildbergers Unterricht ausgegangen ist, als er mir 1978/79, im letzten Jahr meines Musikstudiums in Basel, Einzelunterricht in Musiktheorie erteilt hat. [Siehe auch hier.]

Was mir damals bei weitem noch nicht klar war: dass mich diese Strenge immer vorab fasziniert hat im Hinblick auf ihre Bedeutung für die Spracharbeit. Meine zentrale Frage seit damals ist immer deutlicher folgende: Ist es möglich, so wie Arnold Schönberg die bis dahin unhinterfragbare funktionale Harmonik zerdacht und durch eine ganz neue «axiomatisch begründete musikalische Syntax» ersetzt hat, die Sprache in ihrer scheinbar unhinterfragbaren Syntax aufzubrechen?

Mehr als das akustische Ereignis des Kontrapunkts hat mich damals seine Notation, seine Denkbarkeit und grafische Fixierbarkeit interessiert. Vielleicht ist nun, zehn Jahre später, das, was ich unter «poetischer Konstellation» verstehe, vor allem ein sprachgrafisches Phänomen (und insofern eben doch der «Konkreten Poesie» verwandt[2]). Sie ist jedoch akustisch nicht umsetzbar, nicht sprechbar oder nur um den Preis der Zerstörung ihrer Idee (dieser Aspekt kann psychologisiert werden als Verweigerungsstrategie gegen eine Vereinnahmung durch den Literaturbetrieb.)

[1] NZZ, 07./08.07.1990.

[2] Hier spiele ich auf eine Bemerkung im Konvolut-Aufsatz «was ist eine poetische konstellation?» (S. 238) an. Sie lautet: «dieses positivistisch-universitäre sprachverständnis der abgetöteten begriffe führte die konkrete poesie in die sackgasse. In ‘Farbe bekennen’ (Zürich, 1982) sagt Claus Bremer: ‘Die konkrete Dichtung ist ihr Material. Ihr Inhalt ist restlos Form, ihre Form ist restlos Inhalt.‘»

(10.07.1990; 27.03.+03.04.2018)

 

Nachtrag 1

Für meinen Blick auf die Spracharbeit um 1990 typisch ist, dass ich die Notiz nicht zu Ende dachte. Zumindest müsste nämlich noch der Satz folgen: «Offen bleibt zurzeit die Frage, ob die Aufbrechung der scheinbar unhinterfragbaren Syntax auch im Hinblick auf das gesprochene Wort möglich wäre.» Typisch ist diese Unterlassung deshalb, weil mich damals an der Sprache vor allem die schriftliche Darstellbarkeit des von mir als Autor intendierten Gehalts interessiert hat. Erst seither habe ich mich mit Klang, Rhythmus und Melodie von Sprache vermehrt auseinanderzusetzen begonnen.

Unterdessen ist das abschliessende laute Lesen auch von journalistischen Texten, bevor ich sie aus der Hand gebe, zum normalen Arbeitsgang geworden. (Die Begert-Reportage[1] habe ich mir kapitelweise mehrmals laut vorgelesen. Die Nachbesserungen, die sich daraus ergaben, betrafen in den seltensten Fällen Inhaltliches.)

[1] Fredi Lerch: Begerts letzte Lektion. Zürich (Rotpunktverlag, 1996.

(01.10.1997; 27.03.2018)

 

Nachtrag 2

Zu fragen wäre: Warum habe ich mich Mitte der neunziger Jahre vermehrt «mit Klang, Rhythmus und Melodie der Sprache» zu beschäftigen begonnen, nachdem ich im Konvolut doch solch traditionelle Versereien bereits weit hinter mir gelassen hatte? Als Journalist offenbar, um meine Texte stilistisch zu schleifen, eleganter und besser lesbar zu machen, das heisst: um ihren kommunikativen Gehalt durch artistische Gefälligkeit zu optimieren. Aber dieser vermehrten Beschäftigung oblag ich ja untrennbar auch als Gedichteschreiber. Wozu also?

Vielleicht zeigte sich hier erstmals das Interesse des erwachenden Literaturrealos in mir an einem Buch: Denn Klang, Rhythmus und Melodie der Sprache bestimmen nach landläufiger Meinung massgeblich den Gehalt von Lyrik – wenn nicht den inhaltlichen, so doch den für die artistische Qualität als massgeblich erachteten.

Für das, was zehn Jahre später «Echsenland» hiess und ein Buch wurde, war dieses wachsende Interesse an Klang, Rhythmus und Melodie Mitte der neunziger Jahre eine Voraussetzung. Erwachte es aus ästhetischem Interesse für Arbeitsweisen von ehedem? Oder aus einem Opportunismus, der schliesslich einen Lyrikband möglich machen sollte?

(07.03.2008; 19., 27.03.+03.04.2018)

v11.5