Die Qualität des Nicht-Werts

In der Vorlesungsreihe über «Kapital und Krise», die Res Strehle zurzeit im Rahmen der Volksuniversität hier in Bern hält, hat er das letzte Mal über die Theorie der Werte von Karl Marx gesprochen. Nach zweistündigem Vortrag schloss er mit dem Hinweis, marxistische Theoretiker würden kritisiert, weil sie sich der «Logik des Kapitals vollständig unterwerfen» würden. Gegen diese Logik, fuhr er fort, wäre eigentlich eine «Logik des Widerstands» zu stellen, die den «Nicht-Wert», die «Nicht-Ware» problematisieren würde. Hier holte er sein Exemplar des «Konvoluts», das ich ihm für 0 Franken verkauft hatte, aus seiner Mappe und las die erste Seite des «geleits» vor. Nach zwei Stunden konzentrierter Denkarbeit in den Kategorien von Gebrauchswert und Tauschwert hatte diese kurze Lesung eine ausserordentlich poetische Wirkung.

Natürlich ist die Kapitalismuskritik, die ich im «geleit» formuliert habe und die ich bei der Verteilung des Konvoluts praktiziere, nichts als schöner Schein – insofern ist auch die Distribution integraler Bestandteil des «Kunstwerks Konvolut».[1] Die Inszenierung dieses schönen Scheins gelingt nur insofern, als es gelingt, die warenmässige Logik in der Konvolut-Produktion zu verschleiern. Der Trick ist folgender: Ich bin gleichzeitig einerseits Produzent und andererseits kostendeckender Käufer, der das Gekaufte verschenkt (was illusionistisch zum Verschwinden bringen soll, dass auch Verschenktes eine Ware mit dem entsprechenden Tauschwert bleibt). So simuliere ich ein der Kapitallogik entzogenes Produkt.

Übrigens argumentiere ich im Geleitwort auch, das Konvolut sei nicht Ware, weil kein Gebrauchswert und demnach auch kein Tauschwert vorliege. Aber eigentlich hoffe ich natürlich auf das Unmögliche: Dass die poetische Logik den Tauschwert banne und sich ein Gebrauchswert gerade aus der von der Warenform nicht korrumpierten Distribution ergebe.[2] Der Gebrauchswert des Konvoluts aber – so die zweite Hoffnung – wäre die poetische Zelebrierung von Unbrauchbarkeit und Nutzlosigkeit als Wert auf den beiden Ebenen der Textpräsentation und des Textinhalts.

So gesehen wäre der «Nicht-Wert» als Gebrauchswert zu definieren, der sich daraus ergibt, dass er den Tauschwert ausschliesst (so wie sich umgekehrt die kapitalistische Wertlogik gerade dadurch definiert, dass der Tauschwert einen Gebrauchswert voraussetzt). Statt dass der Gebrauchswert einen Tauschwert impliziert, schliesst er ihn im Fall des Konvoluts aus. Das ist der Unterschied zwischen Wert und Nicht-Wert. Letzterer verhielte sich, im Gegensatz zu den beiden Wertkonzeptionen von Marx, dem Kapital gegenüber subversiv, weil er eine Werteform denkbar machen würde ausserhalb des kapitalistischen Universums. Die Grundfrage einer Politik des Nicht-Werts würde lauten: Wie kann das Wertlose – oder besser: das Tauschwertfreie – aus seiner Machtlosigkeit befreit werden? (Und wie wäre in diesem Fall die gesellschaftliche Zirkulation der lebensnotwendigen Dinge zu organisieren? Oder bleibt es dabei, dass tauschwertfrei nur das sein kann, was nicht lebensnotwendig ist?)

[1] Der Begriff «Kunstwerk Konvolut» bedeutet analog das gleiche wie «Kunstwerk Nein» im Zusammenhang mit dem Kulturboykott 700.

[2] Ein Indiz, dass mir dies wider Erwarten tatsächlich weitestgehend gelungen sein könnte: Zwar ist es jetzt schon viele Jahre her, dass ich gegen 500 Konvolut-Exemplare unter die Leute gebracht habe. Aber: Weder habe ich bis heute – bis Dezember 2007 – in einem Buchantiquariat je ein Konvolut gesehen, noch hat mir je jemand von einem solchen Fund erzählt, noch bietet im Moment das «Zentrale Verzeichnis antiquarischer Bücher» im deutschsprachigen Raum ein Konvolut an. (Ein Suchlauf auf www.zvab.com am 19.03.2018 bestätigt diesen Befund.)

(09.+10.09.1990; 08.11.1997; 01.12.2007; 19., 26.03.+03.04.2018)

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