Die Untergegangenen der Gruppe Olten

Nach dem Freischalten des Facebook-Inserats zum Mäander 16 «Kulturboykott. Feierabendtexte» ergab sich am 19. und 20. März 2018 mit dem Schriftsteller Alex Gfeller ein Chat, der zu einer Projektidee führte, die vorderhand den Arbeitstitel «Das untergegangene Proletariat der Gruppe Olten» (GO) trägt und hier für alle Fälle gesichert werden soll.[1]

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Alex Gfeller: Darf ich in meiner Wenigkeit zum Kulturboykott noch etwas anfügen? Ich selber habe diesen Boykott der GO vorgeschlagen, worauf ich vor versammelter Autorenschaft richtig zusammengeschissen wurde. Otto F. Walter beschuldigte mich sogar, den armen Autoren böswillig eine wichtige und seltene Verdienstmöglichkeit vorenthalten zu wollen. Alle anwesenden Gymnasialautoren schauten mich darauf hasserfüllt an; einzig Mariella Mehr hat mein Anliegen verteidigt. Nur ein Jahr später ist derselbe Otto F. Walter grossspurig in die nächstfolgende Autorenversammlung hereingeplatzt und hat denselben Kulturboykott gleich ausgerufen.

Fredi Lerch: Was du zur Vorgeschichte des Kulturboykotts schreibst, ist interessant. Ich habe von der Diskussion innerhalb der GO vor Januar 1990 nichts gewusst. Im eben erschienenen Buch «Links und bündig» von Stefan Howald zur Geschichte der WOZ (Rotpunktverlag 2018) wurde im WoZ-Zusammenhang eine kritische Stellungnahme von Gerold Späth wie folgt aufgenommen: «Gerold Späths Aktion […] elektrisiert. Bei einem Treffen in Schernelz BE bei WoZ-Redaktorin Ruth Wysseier entwickelt Jürg Frischknecht die Idee eines allgemeinen Boykotts der Feiern durch die Kulturschaffenden. Andreas Simmen und Patrik Landolt übernehmen die Federführung.» (S. 102) Weil Simmen bald nachher eine Südamerikareise unternahm und Landolt für den ganzen Kulturteil der Zeitung zuständig war, wurde die Federführung in der Boykottsache kurz darauf an mich weitergereicht (ich war in Schernelz nicht anwesend).

Alex Gfeller: Von Schernelz weiss ich nichts. Ich weiss nur, wie das für mich damals gelaufen ist. Ich bin ins offene Messer gelaufen, und ich erinnere mich gut daran, weil ich kurz danach einfach ausgetreten bin, obschon mir Dres Balmer [der damalige Präsident der GO, fl.] danach verzweifelt nachgelaufen ist, weil ich diese Vereinsintrigen hasste. Es war auch in der famosen GO nicht anders als in irgendeinem Scheissverein oder in einem Lehrerzimmer, nur dass man dort von den vielen stets anwesenden Spitzeln der Bundesanwaltschaft eifrig notiert worden ist.

Fredi Lerch: Alex, eine Frage zu deiner schriftstellerischen Biografie: Warum bist du in die GO eingetreten? Ging es um den ominösen «demokratischen Sozialismus» im Zweckartikel? [siehe hier, Nachträge, fl.]

 Alex Gfeller: Ich kann nur das sagen, was ich selber erlebt habe und wie ich es selber erlebt habe. Das war eine nächtelange Diskussion mit häufig wechselnder Besetzung. Die Leute, die sich aus verständlichen Gründen vom bürgerlichen Schriftstellerverein abgrenzen wollten, waren eine Weile damit einverstanden, was die jungen Leute (z.B. Ueli Kaufmann aus Basel) vorschlugen, nämlich dieses linke Zeug, das selbst die Sozialdemokraten wieder aufgriffen, aber allen war klar, dass das bedeutungslos war. Die Schriftsteller schauten eh nur für sich, alle, jeder einzelne, für sich alleine, ganz egal, in welchem Verein er (oder sie!) sich befand. Der tiefe Graben verlief ja zwischen denjenigen, die einen Brotberuf ausübten, und denjenigen, die sich todesmutig in die Selbständigkeit gestürzt hatten, warum auch immer. Jeder kannte ja die kargen Bedingungen. Wahrscheinlich hatten sie alle Frisch und Dürrenmatt als Ziel vor Augen. Sie setzten sich dafür in der Regel freiwillig der persönlichen Tragödie aus, mit verheerenden Folgen. Ganze Jungfamilien wurden vernichtet, Existenzen zertrümmert. Ich habe mich neulich all der Gesichter von damals erinnert. Niemand von ihnen ist jemals wieder aufgetaucht, auch wenn sie zeitweise etwas bescheidenen Erfolg hatten.

Ich selber war damals jung und naiv. Ich hatte gerade mal zwei Bücher veröffentlicht und schaute jede Woche im SPIEGEL nach, ob eine Besprechung drin steht. Irgendwie wollte ich dazu gehören, zu den Schriftstellern. Das war für mich wichtig, aber gleichzeitig war das auch obernaiv. Die richtigen Schriftsteller, ihre Apparatschiks und ihre Polizeispitzel blieben wohlweislich immer unter sich und liessen keinen bekloppten Newcomer an ihren Tisch. Da verlief eine klare Grenze zwischen Häuptlingen und Untertanen. Die Oberindianer interessierten sich überhaupt nicht für deren neueste Literatur, in keiner Weise. Sie empfanden junge Schriftsteller als lästige Konkurrenz, die ihnen die Preise klaute. Bei jeder Veranstaltung spähten sie angestrengt nach den wirklich wichtigen Köpfen im Saal, den NZZ-Kritikern, oder sie krochen ihren Verlegern (sofern die überhaupt anwesend waren) öffentlich in den Arsch. Ich selber aber hatte von den famosen Schweizerschriftstellern bald einmal genug gesehen, obwohl ich dort auch ein paar junge Leute kennengelernt hatte, die ich durchaus mochte und schätzte. Aber das waren die wenigen Ausnahmen. Die meisten Leute dort waren im persönlichen Umgang richtig unerträglich, ganz besonders die Frauen, und waren politisch unter Null. Und, wie gesagt, nach der Boykott-Geschichte hatte ich endgültig genug erlebt. Das Thema war für mich erledigt.

Mit dem liebenswerten Hans Mühlethaler[2], dem Dauersekretär und Oberapparatschik der GO, blieb ich überraschenderweise ein halbes Leben lang verbunden; ich weiss auch nicht, warum. Noch kurz vor seinem Tod sind wir zusammen im Falken saufen gegangen, so wie zwei Generationen zuvor Hodler und Loosli, denen du, lieber Fredi, verdankenswerterweise ein richtig schönes Denkmal gesetzt hast. Doch, ich weiss es jetzt, wo ich darüber nachdenke. Er war der einzige weit und breit, der meine Bücher lobte.

Fredi Lerch: Hans Mühlethaler und du haben ja auch den gleichen Weg an den Buchverlagen vorbei in die Öffentlichkeit gesucht, indem ihr eure literarischen Texte ab ca. 2000 als Books on Demand im Selbstverlag angeboten habt – bestraft worden seid ihr beide durch die vollkommene Ignoranz derjenigen, die in den massgeblichen Medien die Transmission von Literatur in die Öffentlichkeit betrieben. Ich verstehe so auch deine Charakterisierung des GO-Establishments: Salonsozialismus um Zweckartikel des Vereins und daneben die kleinbürgerliche Missgunst der (oft ja verheirateten) nonkonformistischen LehrerPfarrerÄrzte, die die GO wohl dominiert haben. Diese jungen Mitläufer der GO, die du erwähnst, und deren Existenzen zum Teil zertrümmert worden seien, das wäre auch einmal eine Geschichte wert: Was haben diese Leute geschrieben? Was haben sie gesagt und gehofft? Wie und warum sind sie untergegangen? Wo sind sie heute (falls sie noch leben)?

Alex Gfeller: Interessante Fragen. Ich empfehle dir, ein Mitgliederverzeichnis von damals anzuschauen. Oder auch mehrere, denn die Mutationen waren gross. Viel Alkoholismus. Drogen. Sozialer Zerfall. Leider gab es auch viele Selbstmorde, aber das liegt auf der Hand. Doch ich will nicht schwarzmalen; der Normalfall fand irgendwie ins Normalleben zurück und liess fortan die Finger von der Literatur. Ich kenne ehemalige Jungschriftsteller, die heute Heilkräuter verkaufen, unterrichten, eine Kneipe führen, Gesundheitsschuhe verticken, Ferienwohnungen und Alternativferien im Piemont, in Griechenland und im Jura anbieten. Einer handelt mit alten Streichinstrumenten, ein anderer mit Antikmöbeln. Im Übrigen sind sie heute alle, wie auch ich selber, längst im Rentenalter. Die wohl interessantesten und umfangreichsten Aufzeichnungen befinden sich in den Archiven der Politischen Polizei.

Insgesamt gesehen, waren diese Zeiten zwischen, sagen wir mal, 66 und 74, wohl die letzten (leicht) bewegten Zeiten in der Kulturgeschichte der Eidgenossenschaft. Zuvor und auch danach ist nicht mehr viel geschehen. Heute ist das alles tot, wie auch die ganze Literatur. So gesehen, ist es heute völlig belanglos, ob man von der NZZ noch wahrgenommen wird, oder nicht, ob man einen Verlag hat, oder nicht, ob man zum Pro Helvetia-Kuchen gezählt wird, oder nicht, und ob man einen der mickerigen Scheisspreise erhält, oder nicht. Die Leute interessieren sich längst nicht mehr für Literatur, und damit ist die Sache erledigt.

Fredi Lerch: Ich bin nicht deiner Meinung, was die Einschätzung des aktuellen Literaturschaffens betrifft. Die Literatur ist nicht tot, bloss ist der gesellschaftliche Ort, an dem sie stattfindet und wirkt, ein sehr anderer geworden. Damals (um 1970) war es ja nicht nur so, dass die ätzende Fichiererei berufliche Karrieren ruiniert und Existenzen kaputt gemacht hat (was ich weder bestreite noch rechtfertigen will). Gleichzeitig war es auch so, dass viele der Generation der nonkonformistischen Autoren von den festangestellten Medienredaktoren, die schweigen mussten, wollten sie festangestellt bleiben, mit Handkuss und immer wieder zur kritischen Stellungnahme eingeladen wurden. Kaum hatten diese Autoren zwei, drei Bücher auf dem Markt, erhielten sie ab Mitte der sechziger Jahre ganze Zeitungsseiten für Interviews und Essays (in der Nationalzeitung, im Badener Tagblatt, im Burgdorfer Tagblatt, in der AZ-Presse, dann auch im Tages-Anzeiger, in der damaligen Weltwoche etc.). Und so widersprüchlich (dialektisch) wie damals ist die Sache auch heute: Zwar kommt Literatur in den «Mainstreammedien» tatsächlich nur noch in Form von Hinweisen auf eine defizitäre Kleingewerblerei vor. Fichiert wird aber niemand mehr, weil er Literatur macht (da muss er oder sie zuerst schon etwas Ernstzunehmendes machen). Deswegen aber haben sich die Nachgeborenen nicht zum Schweigen bringen lassen. Wie gerade die Spoken word-Szene zeigt, sind neue literarische Formen entstanden, die auf neuen Wegen auch ein junges Publikum anzusprechen vermögen. Vielleicht könnte man im Vergleich zu 1970 sagen, dass Literatur und ihre Rezeption in viel grösserem Mass als damals eine Subkultur geworden ist.

Alex Gfeller: Kann sein. Kann aber auch nicht sein. – Der entscheidende Punkt: Nur im Untergrund kann das Literaturschaffen nicht politisch gesteuert werden. In der Schweiz haben wir puncto Kunstschaffen russische Verhältnisse.

Fredi Lerch: Damit wir’s nicht vergessen hier das Projekt, das wir ausheckten, ohne es richtig zu merken: Zu schreiben wäre ein grösserer Text mit dem Arbeitstitel: «Das untergegangene Proletariat der Gruppe Olten» (passt gut zum «demokratischen Sozialismus», finde ich). Vorgehen:

1. Gesucht wird das erste Mitgliederverzeichnis der GO (wohl ca. 1971, das Archiv der GO liegt im SLA).

2. Aus der Namensliste werden all jene Autorinnen und Autoren ausgewählt, die heute nicht mehr bekannt sind resp. seit langem nicht mehr publizieren. Daraus ergeben sich zwei Listen: die verstorbenen und die noch lebenden Untergegangenen.

3. Von allen noch lebenden Untergegangenen werden die Adressen ermittelt, sie werden kontaktiert und um ein Gespräch gebeten a) über ihre literarische Karriere, b) über ihre Erinnerungen an die GO und c) über die Gründe für die Beendigung der schriftstellerischen Karriere. Die Gespräche werden geführt, aufgezeichnet und integral transkribiert.

4. Mit schriftlicher Erlaubnis der Kontaktierten wird im Bundesarchiv nach ihren Staatsschutzfichen und -akten gesucht.

5. Das zusammenkommende Material wird kapitelweise geordnet: Jeder Autor/jede Autorin wird in einem kurzen Editorial inkl. Werkverzeichnis vorgestellt, dann folgt das Interview (redigiert und autorisiert), dann eine Zusammenstellung der Fichen und Akten (die Auswahl wird von der betroffenen Person ebenfalls autorisiert).

6. Die Sammlung erhält ein Nachwort, das einerseits eine Gesamtschau über das zusammengetragene Material bietet und andererseits die Liste der verstorbenen Untergegangenen (inkl. Werkverzeichnis) dokumentiert.

7. Würde ich dieses Buch (das im Übrigen sehr wahrscheinlich kein Verlag drucken würde) tatsächlich machen, würde ich’s dir widmen.

Alex Gfeller: Dazu möchte ich vermerken: Die meisten sind schon lange tot. Die Überlebenden wollen oft nichts mehr damit zu tun haben und reagieren heftig abweisend auf entsprechende Anfragen, denn mit ihrem Verschwinden, das sie immer noch als ihr persönliches Versagen empfinden, würde ihre ganze Lebens-Niederlage publik werden. Das wäre too much. Selbst Autorinnen und Autoren, die dadurch, dass sie kurz- oder mittelfristig deutsche Verlage gefunden hatten, der schweizerischen Verfolgung und Vernichtung entgangen sind, reagieren verbittert auf entsprechende Anfragen. Nur diejenigen, die durch lebenslanges Schleimen und permanentes Arschkriechen einen gewissen Erfolg erwirtschaftet haben – und davon gibt's viele – stehen gerne zur Verfügung. Aber die sind nie wichtig gewesen und waren auch nie interessant.

Fredi Lerch: Klar, ob und was realisierbar wäre, ist eine andere Frage. (Man müsste ja wohl auch Interviews auf Italienisch und Französisch führen können, was für mich eine sehr hohe Hürde wäre). Wie viele überlebende Untergegangene noch zu finden wären, müsste recherchiert werden. Sicher ist: Als Oral History-Projekt müsste man jetzt, sofort, damit beginnen, weil die Gesuchten heute alle 70 oder älter sind. Ich schlage vor, dass ich diesen Chat als Beitrag ins Logbuch des «Stückwerks» einbaue, damit die Idee gesichert ist. Ich schneide unsere Statements aus und übermittle dir das Ganze in einer Worddatei auf anderem Kanal.

Alex Gfeller: Gut so, Fredi. Im Übrigen waren die welsche und die tessiner Szene viel lebhafter als die deutschschweizer Knörze.

[1] Ich danke Alex Gfeller für die Einwilligung, seine Statements an dieser Stelle zweitzuveröffentlichen.

[2] Zu Hans Mühlethaler als Schriftsteller vgl. hier, zu seiner Arbeit als Sekretär der Gruppe Olten hier und zu seinem Tod hier.

 

Nachtrag

Tags darauf ergab sich zwischen Gfeller und mir noch folgender kurzer Wortwechsel:

Fredi Lerch: Zu obigem: Man müsse sofort beginnen, weil die Gesuchten heute alle 70 oder älter seien, habe ich gestern geschrieben. Heute morgen lese ich, dass am Montag in Basel Jürg Laederach 72jährig gestorben sei. Täusche ich mich, oder ist damit ein Wichtiger gestorben, der im skizzierten Projekt hätte Auskunft geben müssen?

Alex Gfeller: O ja, ein sehr Wichtiger sogar! Er hat literarisch nahezu alles gewagt, was man wagen kann, ein sehr seltener Vorgang in der schweizerischen Literatur. Und somit hat man ihn als Spinner behandelt. Das hat ihm offenbar stark zugesetzt. Ich habe ihn mal getroffen. Er war völlig neben den Schuhen. Ein Opfer der Arbeit.

(26.03.2018)

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