Entsteht hier eine Autobiografie?

In einem freundlichen Facebook-Post schreibt mir der ehemalige WoZ-Kollege Stefan Keller: «Lieber Fredi, nachts lese ich manchmal in Deinen Texten, fast jedesmal möchte ich Dir heftig dreinreden und widersprechen, aber ich bin doch froh, dass es die Dreinrede-Funktion nicht gibt. Ein grosser Gewinn, diese Lektüre, die mich immer wieder persönlich berührt. Indiskret allerdings, was Deine alten WOZ-KollegInnen betrifft. Aber Indiskretionen gehören zur Autobiografie. Mach unbedingt weiter! (Tust Du ja sowieso.)»

Ich habe ihm geantwortet: «Lieber Stefan, das Problem der Diskretion ist mir bewusst, darum spreche ich alle WoZ-Leute konsequent mit Kürzel an. Als die Zeitung sich mit WOZ zu bezeichnen begann – im Herbst 2003 – war ich übrigens schon nicht mehr dabei. Das heisst auch: Es geht um alte Geschichten. Wer sich hinter den Kürzeln versteckt, ist für Leute unter 40 nur noch mit Recherchen rekonstruierbar. Wichtig ist mir meine intellektuelle Selbstverständigung, die das Stückwerk ist, als Teil eines Diskussionszusammenhangs zu verstehen und zu sehen. Über deine Einschätzung, dass ich an einer ‘Autobiografie’ arbeite, muss ich nachdenken.»

Unterdessen habe ich nachgedacht und bin der Meinung, dass das «Stückwerk»-Projekt trotz Gegenargumenten als Autobiografie gesehen werden kann. Daniela Langer stellt die Textsorte Autobiografie – für die «Wirklichkeitsbezug und Wahrheitsanspruch als konstituierende Charakteristika» gälten –  in eine Reihe mit «Apologien, Chroniken, philosophische[n] Selbstreflexionen, Tagebücher[n], Briefe[n], Memoiren, Reisebeschreibungen oder Lebensläufe[n]».[1] In diesem Feld kann man das «Stückwerk» sicher einreihen.

Allerdings sei der «Gegenstand» der Autobiografik «das eigene Leben» und die «Chronologie des eigenen Lebens» sei wichtig, lese ich. Hier muss ich sagen, dass mein eigenes Leben bisher nicht bloss aus der WoZ, dem Konvolut und dem Kulturboykott bestanden hat. Den Gegenstand des «Stückwerks» sehe ich eher als Abbildung des (selbst)kritischen Denkens anhand ausgewählter Themenfelder, durch die die collagierten Texte mäandern. Auch der für die Biografik wichtige Begriff der Erinnerung spielt beim Material, aus dem das «Stückwerk» gebaut wird, eine kleine Rolle: Die Werkestücke sind ja zumeist als spontane Reaktionen auf unterdessen Zeitgeschichte gewordene Ereignisse entstanden. Meine Erinnerung, von deren Unzuverlässigkeit und Formbarkeit ich überzeugt bin, spielt am ehesten bei der Formulierung von Nachträgen oder bei redaktionellen Retouchen eine Rolle. Bei Eingriffen nach dem Motto: Was habe ich hier eigentlich vor dreissig Jahren sagen wollen? ist mir die Gefahr der Selbstüberschreibung bewusst.

Ein anderer Aspekt macht das «Stückwerk» aber tatsächlich zu einem Stück Autobiografik. Es ist einerseits ein eigenständiges Projekt mit einer eigenen Website, andererseits ist diese Site in meine Textwerkstatt integriert (dort in der linken Spalte systematisch eingeordnet unter Literarisches/Notizen/Stückwerk). Diese Textwerkstatt besteht zurzeit quantitativ betrachtet überwiegend aus journalistischen und zeitgeschichtlichen Texten, die sich jedoch in den Dienst des dort entstehenden Textlabyrinths zu stellen haben, das ich im Editorial der Werkstatt als Projekt zur «Selbstrekonstruktion als Text» bezeichne.

In einer Kolumne habe ich darüberhinaus die These vertreten, durch die neue Kontextualisierung des journalistischen Materials entstehe in der Textwerkstatt «unter den Aspekten von Subjektivität und Selbstfiktionierung eine Literarizität, die belletristischen Versuchen zwischen zwei Buchdeckeln zumindest nicht nachsteht». Ist also die ganze Textwerkstatt (inklusive Stückwerk) ein grosser autobiografischer Versuch? Wohl schon, allerdings mit dem Fokus «auf [den] sprachlichen und literarischen Prozesse[n] der Selbst-Darstellung als Selbst-Gestaltung» (Langer). Selbstrekonstruktion als Text heisst ja auch, so in der erwähnten Kolumne weiter, dass «die einzelnen journalistischen Texte zu Abschnitten eines autobiografischen Romans» würden. So gesehen fungiert das Ich in der Textwerkstatt als Blackbox: «Je mehr meiner Sprach-Blicke auf die Welt ich zugänglich mache, desto mehr wird das blickende Subjekt zur Fiktion – desto mehr verschwinde ich dahinter im Schweigen.»

Mir gefällt dieser Gedanke, wie mir ein anderer von Robert Walser immer gut gefallen hat: «Niemand ist berechtigt, sich mir gegenüber so zu verhalten, als kennte er mich.»[2]

[1] Daniela Langer: «2.8.5 Autobiografie», in : Thomas Anz [Hrsg,]: Handbuch Literaturwissenschaft. Band 2. Stuttgart/Weimar (Verlag J. B. Metzler) 2013, S. 179-187.

[2] Robert Walser: Das Kind (III), in: ders.: Das Gesamtwerk. Band 3. Frankfurt am Main (Suhrkamp) 1978, S. 406.

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