Niemand liest. - Na und?

Seit ich gegenüber Alex Gfeller begründet habe, warum das «Stückwerk» eine Online-Publikation sei und ich nicht daran dächte, mich dafür einzusetzen, dass daraus ein Buch werde, ist mir ein Argument wieder eingefallen, das mir seit langem vertraut ist und über das ich vor anderthalb Jahren in der Kolumne «Warum das Hirn schrumpft» nachgedacht habe. Es geht darum, dass ich in einer Gesellschaft lebe, deren öffentliche Kommunikation massgeblich auf der Sozialtechnik des Lesens beruht, diese Lesekultur aber Jahr für Jahr unter noch grösseren Druck kommt.

In jener Kolumne schrieb ich, dass ich gelernt hätte: «Wer Zeitungen liest, verliert nur Zeit.» Nachtragen will ich hier, dass das nicht nur für Zeitungen zutrifft, sondern selbstverständlich auch und wegen des grösseren zeitlichen Aufwands sogar noch mehr für das Lesen längerer Texte, also insbesondere das Lesen von Büchern.

Tatsache ist: Wer liest, ist selber schuld, weil er oder sie damit in erster Linie Zeit verliert. Lesen als Sozialtechnik ist längst ersetzt durch die andere, die die Frage beantwortet: Wie bekomme ich – ohne lesen zu müssen – mit, was geschrieben worden ist? Dem Bedürfnis, so tun zu können, als hätte man sich lesend informiert, wird von der Medien- und Kommunikationsindustrie aller Grade intensiv Rechnung getragen.

Dagegen ist der Versuch, mit sauber, präzis und differenziert gearbeitetem journalistischem oder literarischem Kunsthandwerk ein sauber, präzis und differenziert lesendes Publikum anzusprechen, naiv und anachronistisch. Schreiben, um gelesen zu werden, ist heute Zeitverschwendung. Punkt.

Dagegen stelle ich eine Schreibhaltung, die ich von der Schriftstellerin Mariella Mehr gelernt, für mich adaptiert und im Werkstück «Flaschenpost: Schreiben ohne Adressaten» so beschrieben habe: «Man schreibt nicht, weil man gelesen werden will – man schreibt, weil etwas geschrieben werden muss.»

Trotz dieser Haltung leiste ich hier den Aufwand, die Werkstücke im Rahmen dieser Onlinepublikation exakt bearbeitet zu präsentieren. Die Texte haben sehr wohl einen öffentlichen Anspruch. Aber ich habe Wichtigeres zu tun als dieser Öffentlichkeit nachzurennen: Ich will schreiben, was (für mich) geschrieben werden muss.

Würde mir jemand beweisen, dass sich auf der «Stückwerk»-Website kein einziger Mensch umsieht, würde ich antworten: Na und? Vielleicht kommt ja später jemand vorbei.

v11.5