Simulation von Opposition

In der Auseinandersetzung mit Roland Barthes’ semiologischer Beschreibung des Mythos wächst die Vermutung, dass eine ausschliesslich im Ideellen, Sprachlichen festgemachte politisch oppositionelle Position sich restlos in einem Mythos des Politisierens auflöst. Da eine solche Position interessenbedingtes Handeln zwar intendiert, aber nicht zur Folge hat, spricht sie keine «reelle», «politische» Sprache, die sich «mit ihrem Objekt auf transitive Weise» verbinden würde, sondern eine Metasprache, die intransitiv nicht mit den Dingen, sondern bloss mit ihren Namen umgeht. «Diese zweite Sprache ist nicht voll und ganz mythisch, aber sie ist der Bereich, in den der Mythos sich niederlässt.»[1]

Politischer Widerspruch zum Verstummen zu bringen, ist hier und heute unnötig. Er wird dadurch unschädlich gemacht, dass er von jeder Handlungsperspektive abgeschnitten wird. So wird er, unbesehen von den inhaltlich vertretenen Positionen, zum Bestandteil des Mythos eines Interessenausgleichs, der weniger diesem als dem liberalen Image der aktuellen Herrschaft dient.

In der Schweiz wird politische Opposition im Jargon eines mittelständisch-bildungsprivilegierten Verbalradikalismus gespielt: Stellvertretergerede über Stummgemachte und Handlungsunfähige ohne Wirkungsperspektive ausserhalb des «richtigen» Arguments: Keine Interessenlage ist erkennbar, die widerständige Sprache mit widerständiger Tat verbinden würde.

Das politische Ziel solcher Opposition ist paradox: Sie will nichts ändern, solange sie ihre verbalradikale Gesellschaftskritik anbringen kann, weil sie sich ihrer Privilegien sehr wohl bewusst ist. Es gibt nichts Systemstabilisierenderes als Kritik von Seiten gutsituierter Opposition.

[1] Roland Barthes: Mythen des Alltags, Frankfurt/Main (Suhrkamp) 1964, S. 134ff. (unter dem Zwischentitel «Der linke Mythos»).

(10./12.02.1991; 13.10.1998; 27.02.+05.03.2018)

 

Nachtrag 1

Heute sehe ich die Simulation von Opposition in der Schweiz grundsätzlicher: Die Schweiz ist eines der wohlhabendsten Länder der Welt. Der Konsens, dass das so bleiben soll, verbindet das gesamte politische Spektrum schon deshalb, weil eine grundsätzlich andere Position zu vertreten die Parteiinteressen jeglicher Couleur gleichermassen schädigen würde.

Daraus ergibt sich ein Konsens darüber, dass die auf unwiderleglichem Unrecht basierenden Privilegien weiterbestehen müssen. Das Bankgeheimnis muss sein[1], die Trittbrettreise mit dem US-amerikanischen Militärimperialismus muss sein, die Verteidigung der menschen- und naturvernichtenden Weltwirtschaft muss sein etc.

Politik in der Schweiz heisst zuallererst Verteilkämpfe um Gewinne und unhinterfragbare Privilegien. Diese Gewinne so gerecht wie möglich zu gestalten, ist zweifellos eine – relativ – soziale Forderung. Aber die doch ziemlich komfortablen Besitzstände von so genannt kleinen Leuten zu verteidigen, die immer mehr einem rechtspopulistischen Scharlatan nachlaufen, der in den letzten zehn Jahren sein Vermögen um mindestens eine Milliarde Franken vermehrt hat[2], obschon er während vier Jahren zu einem geradezu lächerlich niedrigen Salär von etwa 400’000 Franken im Bundesrat mitregiert hat, ist ein politisches Engagement, auf das stolz zu sein man sich denn doch manchmal schämt. 

[1] Mit der Inkraftsetzung der «Verordnung über den internationalen automatischen Informationsaustausch» auf 1. Januar 2017 hat die Schweiz unter massivem internationalem Druck das Bankgeheimnis für Auslandsgelder aufgehoben. Ende des gleichen Jahres hat das nationale Parlament unter dem Druck der zustande gekommenen Bankgeheimnis-Initiative die Lockerung des Bankgeheimnisses im Inland verhindert. (NZZ, 12.12.2017)

[2] Das ist aus der Sicht von 2008 formuliert. Unterdessen liegt das Vermögen der Familie Blocher bei 11 bis 12 Milliarden (siehe hier, Nachtrag 3).

(06.05.2008; 06.03.2018)

 

Nachtrag 2

Ausgehend von solchen Überlegungen studiere ich unterdessen ab und zu an einem Essay herum unter dem Titel: «Letzte Utopie Besitzstandwahrung» (vgl. auch hier und hier). Ausgangsthesen könnten sein:

1. Die materielle Expansion der hochindustrialisierten Länder stösst an objektive Grenzen. Für sie sind deshalb die weitere Vermehrung des Reichtums – und vermutlich bald einmal lediglich noch die Besitzstandwahrung – nur noch möglich über die Verschärfung der Verteilkämpfe und der Ausbeutung im Rest der Welt.

2. Ich lebe in einem Land, das im Windschatten des westlichen Imperialismus zu einem der reichsten der Welt geworden ist. Seit dem 19. Jahrhundert gewachsen ist hier die politische Überzeugung, «mehr» sei allemal ein Fortschritt – links fokussierte man mehr soziale Sicherheit, rechts auf mehr wirtschaftliche Freiheit. Über das ganze politische Spektrum hinweg als unpolitikabel galt jederzeit und gilt auch heute das immer unausweichlichere Weniger.

3. Nicht nur in meinem Land, sondern in allen hochindustrialisierten Ländern stehen sich heute zwei hauptsächliche politische Kräfte gegenüber. Zum einen die Kraft, die das liberale, weltoffene Image dessen verteidigt, was man als die neoliberale Diktatur der transnationalen Konzerne bezeichnen könnte. Zum anderen die Kraft, die einen protektionistischen Kampf führt im Dienst von national-sozialer Sicherheit und/oder Identität. Die Aufteilung dieser beiden Kräfte auf das herkömmliche Links-rechts-Schema schafft mehr Verwirrung als Klarheit, weil beide Kräfte – je nach Sachfrage in verschiedenen Konstellationen – von Fraktionen der Linken und Fraktionen der Rechten gemeinsam gebildet werden.

4. Der unausgesprochene Konsens beider Kräfte ist es, den Besitzstand der eigenen Klientel ohne Rücksicht auf Verluste zu verteidigen. Dieser umfassende Konsens ist die letzte gesellschaftspolitische Utopie, bevor das ins Unpolitikable verdrängte Weniger sich schicksalshaft Bahn brechen wird.

(27.+28.02., 05.+06.03.2018; 09.09.2022)

v11.5