Nach dem Ende der Ethik

Wenn die Zeit des planenden Denkens vor dem zeitgerechten Handeln immer weiter verkürzt wird, wenn Denkkomplexe und Handlungskomplexe bis zur Gleichzeitigkeit parallelgeschaltet werden und deshalb objektiv nicht mehr (respektive nur noch als elektronische Simulation von Denken) aufeinander Bezug nehmen können, dann geschieht folgendes: Das Handeln wird undenkbar und das Denken führt umgekehrt zu keiner Praxis mehr, weil es immer zu spät kommt. Denken als planendes wird obsolet; die Praxis wird selbstbezüglich, die Theorie verliert die Praxis als Horizont, das Denken bleibt ohne Konsequenzen, Handeln wird unverantwortet.

Das Auseinanderbrechen von Theorie und Praxis durch die Verkürzung der Entscheidungsphasen vor dem Handeln auf Zeiträume, die das Denken nicht mehr zulassen, führt jede herkömmliche Vorstellung von Ethik ad absurdum: Ethisches Handeln wird zum Widerspruch in sich selbst, entweder ist etwas ethisch verantwortet oder es ist eine Handlung.

Nicht die Zeit selbst wird zerstört: Die Haare werden weiterhin grau und der Atem kürzer, wie seit je; im grellen Licht der Lebenszeit kippt weiterhin Hoffnung um Hoffnung in die Illusion weg: Das bleibt. Aber: Zerstört wird die Aktion-Reflexion-Relation. Handeln soll nur noch können, wer die Reflexion an elektronische Denksimulatoren delegiert und deren Ergebnis simultan und wenn nötig weltweit umsetzen kann. Wer über diese Technologie nicht oder nicht in ausreichendem Masse verfügt, wird von vornherein zum Opfer gesellschaftlich relevanten Handelns. Über diese Menschen wird verfügt, Welt wird für sie nur als Faits accomplis oder besser als permanente Bedrohung und unabwendbare Gewalt erfahrbar. Die Reflexion der beherrschten Mehrheit der Menschen taugt nur noch zur – unzeitigen – Trauerarbeit über das unbeeinflussbare, dunkel aggressive So-Sein der Welt. Die Zerstörung der Aktion-Reflexion-Relation konstituiert Herrschaft als definitive Unumkehrbarkeit von Machtverhältnissen.

(3./4.5.1991; 23.02.+02.03.2018)

 

Nachtrag 1

Michel Foucault unterscheidet prinzipiell umkehrbare Machtbeziehungen («relations de pouvoir») und Herrschaftszustände («états de domination»). Diese Differenzierung erweise sich als wesentlich, kommentiert Wilhelm Schmid, «da sie den Raum öffnet, in dem eine Ethik sich ansiedeln kann, die a priori gegen Herrschaftsverhältnisse die mögliche Umkehrung von Machtbeziehungen ins Spiel bringt. Solange diese Umkehrung möglich ist, geht es um das Spiel der Macht, nicht um den Zustand der Herrschaft.»[1]

Vor dem Hintergrund dieser Differenzierung postuliert das Werkstück, dass die elektronische Beschleunigung des Vorlaufs von Handlungen dazu führe, die Relations de pouvoir durch einen umfassenden État de domination zu ersetzen. Dann würde sich nur noch fragen, ob danach alle Menschen von den Maschinen beherrscht würden oder bloss alle ausser jenen, die die Maschinen beherrschen. Aber können Menschen Maschinen beherrschen, von denen sie beherrscht werden?

[1] Wilhelm Schmid: Auf der Suche nach einer neuen Lebenskunst. Die Frage nach dem Grund und die Neubegründung der Ethik bei Foucault. Frankfurt/Main (Suhrkamp) 1991, S. 80.

(3./4.5.1991; 23.02.+02.03.2018)

 

Nachtrag 2

Stimmt die These von der Zerstörung der Aktion-Reflexion-Relation durch die technologische Revolution der elektronischen Produktionsmittel, dann stimmt auch die andere, dass, wie Max Frisch 1986 in seiner Solothurner Rede gesagt hat, kein Zweifel darüber bestehe, «dass die Aufklärung, das abendländische Wagnis der Moderne, weitherum gescheitert» ist.[1] Hinter dem bunten Wirbel des postmodernen Anything goes konstituiert sich ein von revolutionärer Elektronik gestützter Herrschaftszustand: unumkehrbar und mit dem Anspruch auf Endgültigkeit. (Mag sein, Francis Fukuyama hat mit seiner These vom «Ende der Geschichte» [1992] unter diesem Aspekt längerfristig recht.)

Die elektronische Entlastung des menschlichen Denkens ist gleichzeitig die elektronische Entmündigung des Menschen. In dem Mass, in dem Handeln im öffentlichen Raum nur noch elektronisch gestützt möglich sein wird, in dem Mass wird für eine überwiegende Mehrheit der Menschheit Leben wieder zu dem, was es in den Anfängen der Zivilisation vermutlich für alle umfassend gewesen ist: unbeeinflussbares Schicksal.

So gesehen ist diese technologische Revolution die Zurücknahme der Aufklärung und die Konstituierung eines neuen Regimes von weltweiter Dimension: Die Maschine handelt; wer sie besitzt, herrscht; wer herrscht, erdenkt bessere Maschinen (zur Zeit herrschen die Maschinen des US-amerikanischen militärisch-industriellen Komplexes).

Und warum schreit niemand auf? Wo sind die freiheitsliebenden Intellektuellen? Sie sitzen selbst- und weltvergessen hinter ihren neuen elektronischen Schreibgeräten und denken fleissig die Aufklärung weiter, für die es zwar noch lange vernünftige Argumente, aber immer weniger eine Welt gibt (tippe ich hier in mein Laptop).

[1] Max Frisch: Schweiz als Heimat?, Frankfurt/Main (Suhrkamp) 1990, S. 461.

(14.10.1998, 12.05.2008; 23.02., 02.+06.03.2018)

v11.5