Warum kein «Stückwerk»-Buch?

Bern, 20.02.2018

Lieber Alex Gfeller,

in einem Facebookeintrag hast du mich gestern gefragt, ob ich das «Stückwerk» nicht als Book on Demand oder bei epubli herausgeben wolle. Das koste quasi nichts, und so könnten beim Lesen auch die «haptischen Bedürfnisse» befriedigt werden. Da ich 2005 bei einem Book on demand-Bändchen für den Berner Kellerpoeten Ueli Baumgartner mitgearbeitet habe (vgl. hier, Nachtrag 1), kann ich nicht rundweg sagen: Das kann ich nicht. Darum will ich dir mit einer defensiven und einer offensiven Antwort mein Das-will-ich-nicht begründen.

Die defensive Antwort

Das Stückwerk-Projekt begleitet mich seit einem halben Leben, und mir schien immer klar, dass diese Textsammlung niemand drucken würde, obschon ich jederzeit der Meinung war, dass die Werkstücke grundsätzlich über mein privates Umfeld hinaus diskutabel sein müssten. Diese defensive Haltung hatte sicher auch mit meinem chronischen kleinbürgerlich-neurotischen Verhältnis zum Geld zu tun. Ich machte das Problem der schlechten Verkäuflichkeit dieser Textsorte von vornherein zu meinem (ich las bereits um 1984 über Ludwig Hohls Kampf um den Druck seiner «Notizen»). So hatte ich stets gewerkschaftlich begründbares Verständnis dafür, dass in der langen Verwertungskette des Buches – von der Lektorin über die Druckerin bis zur Buchhändlerin – zumeist Leute arbeiten, die auf branchenübliche Löhne angewiesen sind. Darum muss, schien mir, über diese Kette grundsätzlich gut verkäufliche Ware produziert und vermarktet werden.

Diese Haltung hat dazu geführt, dass ich in den gut dreissig Jahren, in denen ich mich nun immer wieder mit dem Stückwerk-Projekt beschäftigt habe, keinen Moment daran dachte, es einem Verlag anzubieten und mich – bestenfalls – mit dem Angebot zu konfrontieren, eine von einem Lektorat (mit)bestimmte Auswahl des Materials drucken lassen zu dürfen. Was Werkstück ist und deshalb zu meinem Projekt gehört, ist für mich auch heute nicht verhandelbar. Weil ich zudem schon früh skeptisch wurde gegenüber der Bedeutung und der Wirkungsweise des Buchmarktes, dachte ich auch nie an ein Book on demand. Dafür erdachte ich mir 2007 eine Veröffentlichungsform, die ich für mich «Protobuch» nannte. Darunter verstand ich «eine buchförmige Veröffentlichung unter Ausschluss des Marktes». Konkret habe ich vier Protobücher geplant respektive im Fall von «Mezzo del cammin» bis zur umbrochenen elektronischen Datei fertiggestellt. Die Idee damals war, die erarbeiteten Protobücher zu gegebener Zeit direkt dem Staat, das heisst dem Schweizerischen Literaturarchiv, als Dateien zu übergeben. So sollten sie am Markt vorbei nachhaltig öffentlich werden, weil sich das SLA verpflichten sollte, die geschenkten Dateien nach den gängigen Lesesaal-Regeln Interessierten zur Einsicht zugänglich zu machen.

Jetzt, zehn Jahre später, erachte ich die Protobuch-Idee als obsolet. Alles, was ich will, kann ich heute selber elektronisch zugänglich machen. Und der Staat hat sich nach der Freischaltung meiner Textwerkstatt (am 22. Mai 2013) schnell bereit erklärt, sie auf bundeseigenen Servern regelmässig abzuspeichern (auch das «Stückwerk», das auf einer mit der Textwerkstatt verlinkten zweiten Website entsteht, wird unterdessen von der gleichen Amtsstelle gesichert).

Ich sage mir heute: Was ich schreibe, ist öffentlich zugänglich und zwar sofort und weltweit, sofern Leute Zugang zum Internet haben. Und alles, was entsteht, wird von der Schweizerischen Nationalbibliothek erst noch gesichert. Weil ich als Schreibender den Anspruch an mich habe, dass die Öffentlichkeit Zugang haben muss zu dem, was ich arbeite, aber mir als Person egal ist, ob jemand lesen mag, was ich geschrieben habe, bin ich’s zufrieden, dass das Stückwerk zurzeit als Onlineprojekt entsteht.

Die offensive Antwort

Die Überzeugung, dass niemand die Werkstücke drucken würde, hat in den späten achtziger Jahren schnell auch die offensive Antwort auf deine Frage begründet. Ich war damals ja WoZ-Redaktor in Zürich und fühlte mich ideologisch unter ständigem Druck, kein richtiger Linker zu sein (sondern bloss ein moralisch Empörter ohne akademisch gefederten theoretischen Background, der mich erst zum ernstzunehmenden Gesprächspartner geadelt hätte). Letzthin las ich einen ziemlich satirischen Schubladentext aus jener Zeit (der nicht zum Stückwerk-Projekt gehört), in dem ich wilde Thesen untereinandergeschrieben habe und dafür von meinem «linken Über-Ich» mit zurechtweisenden Tiraden gemassregelt werde. Laut herausgelacht habe ich beim Lesen, weil das Überich an einer Stelle züritüütsch «Sonen Säich!» sagt, statt bärndütsch «Sone Seich!». Ich gehe davon aus, dass mir damals die tiefere autobiografische Wahrheit dieser Schreibweise gar nicht bewusst gewesen ist.

Kurzum: Für mich war das Schubladentexte-Schreiben am linken Überich vorbei ein Freiheitsversprechen, Argumente offensiv ausprobieren zu können. Am Schluss des «Vorsatzes» zum «Stückwerk» findest du die Sätze: «Einem Werkstück ist jeder Horizont des Vollkommenen feind. Wahrheit gelingt, mag sein, im Modus des Wissens nie. Das Äusserste ist die ikarische Lust: Was aufsteigt, muss zerschellen, um besser fliegen zu lernen.» Klar: Das ist viel Pathos. Aber: Hätte ich mit dem Ziel, ein Buch machen zu wollen, im Kopf die Schere des linken Überichs aktiviert, wären die Werkstücke vielleicht wohltemperiert-salonsozialistischer, aber sicher weniger radikal (zu meinen Wurzeln gehend) und weniger originell formuliert worden.

Ein weiteres Argument gegen das Buch ist die «Zufallsgenerator»-Idee, die mich zu Beginn der aktuellen Projektphase im letzten Sommer stark beschäftigt hat. Es geht um die Idee der «flächigen Anordnung» von Textmaterial. Diese Idee finde ich interessant, obschon mir klar ist, dass die einzelnen Werkstücke als konventionelle, linear hintereinandergestellte Prosa funktionieren. Durch das interaktive «Zu irgendeinem Werkstück» unter jedem Text erhalten Lesende aber die Möglichkeit, nicht nur zum vorhergehenden oder zum nächsten Text vor- oder zurückzuklicken, sondern innerhalb des Materials zufallsgesteuert irgendwohin zu gelangen.

Darauf kannst du sagen, man könne auch ein Buch irgendwo aufschlagen und weiterlesen, insofern sei diese elektronische Funktion eine überflüssige Spielerei. Dagegen sage ich: Das ist nicht so. Das Medium Buch ist über die lebenslange Konditionierung der Rezipierenden untrennbar mit der Sozialtechnik verbunden, den Text von Seite zu Seite vorwärtsblätternd zu lesen. Ich zum Beispiel würde nie sagen: «Ich habe ein Buch gelesen», wenn ich hin- und herblätternd einige Passagen angeschaut habe.

Genau um dieses vom Zufall gesteuerte Springen geht es aber in einem «Stückwerk» als dem «unvollkommene[n], mangelhafte[n], unfertige[n]» (siehe hier, Fussnote 2). Die Online-Präsentation ist gerade deshalb spannend, weil sie mit einer Rezeptionsweise rechnen kann, die von einer anderen Sozialtechnik geprägt ist, nämlich vom mehr oder weniger unkonzentrierten Hin- und Herklicken, das alle betreiben, die ausserhalb der Arbeitszeit am PC lesend abhängen. Kurzum: Als Online-Projekt erhält das Stückwerk den Schein des gleichzeitig Unübersichtlichen und Unabschliessbaren in viel grösserem Mass denn als Buch.

Das haptische Argument

Bleibt dein Argument von der haptischen Wahrnehmung des Buches, vom In-die-Finger-Nehmen, vom tastenden Begreifen des Mediums. Bei mir kommt, gerade bei Sachbüchern, das Bedürfnis hinzu, Anstreichungen und Notizen machen zu können. Ich gestehe also gerne: Auch ich habe Bücher gern und besitze viele.

Trotzdem sind Bücher ein kulturkonservatives Argument, wenn es um die Frage des Trägermediums geht. Sogar wenn du recht hättest und Books on Demand wirklich «nix kosten», also null Franken Produktionskosten verursachen würden, würde mich dieses Trägermedium doch zwingend zum Kleinkrämer machen, der das Produzierte verkaufen wollen muss. Das aber will ich nicht. Ich will mit der Arbeit am Stückwerk lieber von vornherein gar nichts verdienen und dafür über das Hochladen hinaus auch nichts mit der Distribution und der Rezeption der Texte zu tun haben. Da bin ich denn doch Berufsmanns genug, um zu sehen, dass bei einem solchen Chrämerlispiel Aufwand und Ertrag in keinem Verhältnis stehen würden.

Weisst du, mir schwebt zunehmend eine utopische demokratische Schreib- und Lesekultur vor (Literatur- und Medienbetrieb zum Beispiel funktionieren ja im Durchschnitt nichts weniger als demokratisch, wie wir wissen). In einer solchen Kultur wären jene, die Texte machen, auf gleicher Augenhöhe mit jenen, die ihre Zeit drangeben, sie zur Kenntnis zu nehmen. Es gäbe zwei Regeln: Jene, die Texte machen, müssten schauen, wie sie leben können, obschon sie Texte machen – und jene, die sie zur Kenntnis nehmen wollen, müssten sich die Zeit leisten können und daneben den Willen aufbringen, zu lesen. Mehr braucht es eigentlich nicht für eine demokratische Schreib- und Lesekultur. Aber weniger eben auch nicht.

Einwenden könnte man noch, dass es kein beständigeres Trägermedium gebe als sorgfältig gelagertes, bedrucktes Papier, dass dagegen elektronische Daten voraussichtlich eine kurze Lebensdauer hätten. Das stimmt vermutlich. Trotzdem soll das «Stückwerk» eine Onlinepublikation bleiben. Wenn eines Tages der Strom wegbleibt, alle Server kollabieren und sich auch die Stückwerk-Daten in Nichts auflösen – dann gibt’s in den sechs Untergeschossen der Nationalbibliothek noch genügend anderes zu lesen. So wichtig kann keine Publikation sein, dass sie durch die Summe der dannzumal noch vorhandenen Texte nicht vollständig ersetzt würde.

Lieber Alex, danke, dass du gefragt hast. Es ist schön, einmal eine Frage beantworten zu können, die tatsächlich jemand gestellt hat – und nicht nur immer Fragen, von denen man sich bloss wünscht, dass sie einem einmal gestellt würden.

Herzlich
fredi

PS. Übrigens: Auf jeder Werkstück-Seite gibt es unten ganz rechts das interaktive Wort «Druckansicht». Klickt man darauf, kommt man zu einer sauberen Blocksatzdarstellung des entsprechenden Werkstücks. Wer Lust hat, kann sich Werkstück um Werkstück doppelseitig ausdrucken und den Papierstapel zum Binden oder Ringheften bringen – was ihn nicht interessiert, kann er von vornherein weglassen. Jeder Mensch mit Internetzugang kann sich so sein individuelles «Stückwerk»-Buch zusammenschustern – ein Urheberrecht wird nicht geltend gemacht (und Raubdrucke in Buchform gibt’s nicht, weil man das «Stückwerk» als Buch nicht gewinnbringend würde verkaufen können).

Für mich ist das ein schöner Gedanke, der auch bedeutet: In einer demokratischen Schreib- und Lesekultur wäre vieles möglich, aber man müsste sich halt die Konsummonade abschminken und zu arbeiten beginnen, wenn man etwas wirklich will. Daneben könnte demokratische Kultur ja bedeuten, die Menschen zu befähigen zu so viel Freiheit, dass sie selber begännen, sich lustvoll Gedanken darüber zu machen, was sie eigentlich wollen könnten, wenn sie nicht bloss täten, was sie müssen.

Alex Gfeller hat gleichentags mit folgendem sehr freundlichen Post geantwortet: «Lieber Fredi, herzlichen Dank für deine sehr ausführliche Antwort. Ich merke, dass du in den Internet-Gedanken verliebt bist, und man soll eine Liebe bekanntlich nicht stören und vor allem die Liebenden nicht auseinander reissen. Nur soviel: Ich glaube, du machst dir einen Kopf über diese müssige Frage. Es ist doch ganz einfach: Du hast den Buchblock bereits; du brauchst ihn nur noch zu pdfflen, und schon kann ich mir das dicke Buch / die dicken Bücher voller Vorfreude bestellen. Denn: Du bist viel zu bescheiden, lieber Fredy, und du liebst es, dich selber klein zu machen. Deine Texte interessieren sehr wohl; ich denke, es würden sich mehr Leute [mehr, fl.] als nur ich freuen, denn du beschäftigst dich mit Themen seit Jahren, die alle interessieren, die nicht längst verblödet sind, und das ganze Insgesamte, das du geschaffen hast (und weiterhin schaffst) ist nicht nur ein Kompendium deiner Auseinandersetzungen, sondern insbesondere eine Essenz dieser unserer verdorbenen Zeit überhaupt. Ich will jetzt keine literarischen Vergleiche bemühen, aber sie lägen ganz oben, Fredi, ganz oben! Doch wie du richtig siehst, kann man damit nicht reich werden, ganz und gar nicht, zumal der Autor gerade von diesen online-Firmen heftig beschissen wird und du dir keinesfalls der falschen Hoffnung hingeben darfst, jemals von der NZZ zur Kenntnis genommen zu werden. Anyway: Wenn das Buch da ist, werde ich es mir besorgen, und wenn ich der einzige bin!»

v11.5