1968 als Utopie

Fünfzig Jahre seit den Jugendunruhen von 1968: Schon Mitte November 2017 hat das Historische Museum Bern die Ausstellung «1968 Schweiz» eröffnet, das Buch zur Ausstellung heisst «Revolte, Rausch und Razzien», ein anderes ebenfalls bereits erschienenes heisst «Rebellion unter Laubenbögen. Die Berner 1968er Bewegung» und zurzeit wird im Schlachthaus Theater Bern das Stück «Remake 68. Ideen und ihre Leichen» von Gerhard Meister und Suzanne Zahnd gegeben.

Am 2. Februar gab’s als Vorprogramm zum Stück die Veranstaltung «Junkere 37 reloaded. Kellerpalaver mit Zeitzeug*innen und mit Zukunftsvisionär*innen von heute». Nach einigem Zögern habe ich die Einladung angenommen, als «Zeitzeuge» teilzunehmen. Zwar war ich 1968 ein Vierzehnjähriger auf dem Land, aber als Verfasser von «Muellers Weg ins Paradies» gelte ich als Spezialist für die Geschichte der «Junkere 37». So diskutierten einige Alte – neben mir Veronika Minder, Jean-Pierre Wolf und Ueli Mäder nebst spontan Dazugekommenen – mit einigen Jungen aus dem Jugendparlament der Stadt Bern und dem Jugendclub Schlachthaus. Inhaltlich mäanderte das Gespräch im Ungefähren, einen gewissen Schwerpunkt bildete das Thema der Frauendiskriminierung damals und heute.

Die fünfviertel Stunden reichten dazu, allmählich ins Gespräch zu kommen. Immerhin schien mir, es werde spannender, nicht langweiliger. Aus meiner Sicht versuchte ich einen Punkt zu setzen: Ein Abend unter dem Motto «Junkere 37 reloaded» sei zwar eine schöne Idee. Aber das Entscheidende am Diskussionskeller an der Junkerngasse 37 sei eben gewesen, dass er nichts Einmaliges war, sondern den Rahmen geboten habe für wöchentliche Veranstaltungen und damit für einen kulturellen Prozess über mehrere Jahre.

Was das heisst, konnte ich nicht ausführen, immerhin wollten alle ein wenig reden. Ausgeführt hätte ich zum Beispiel dies: Je mehr Markt und Öffentlichkeit zu kongruenten Grössen werden, desto wichtiger sind eigentlich marktunabhängige Räume, in denen Prozesse als Ausdruck demokratischer Kultur (zum Begriff siehe hier, Nachtrag 1) initiiert und weiterentwickelt werden können. Beigefügt hätte ich, es sei heute Ausdruck der herrschenden neoliberalen Ideologie, dass nichts Kultur sein könne, was nicht zuerst Produkt am Markt gewesen sei. In dieser Logik könnten Prozesse grundsätzlich nicht Kultur sein, sondern als Produktionsprozesse höchstens eine Voraussetzung dazu.

Warum ich skeptisch sei, dass eine «Junkere 37» als marktunabhängiger Raum heute Wirkung entfalten könnte, hätte ich so begründet: 2018 ist nicht 1968. Neben allem anderen haben die portablen elektronischen Geräte in den letzten Jahren als normierte Vermittlungsinstanzen zwischen den Integrierten und als Selektionsinstrument gegenüber allen, die den Anschluss nicht schaffen können oder wollen, die soziale Interaktion vollkommen verändert. Wer nicht abgehängt worden ist, kommuniziert heute bereits weitgehend entortet und entzeitlicht. Diese Abkoppelung von der einzig beeinflussbaren raumzeitlichen Gegenwart erleben die Menschen zurzeit als kulturellen Fortschritt. Anders: Sie erleben ihre eigene Zurichtung zu Handlungsunfähigen als grösseres Freiheitsversprechen als den selbstbestimmten Entschluss zur Verpflichtung, an einer zeitlich und örtlich fixierten Veranstaltung mit realen Menschen in ein vielleicht schwieriges Gespräch zu kommen.

Pastoral resümierend hätte ich dann vielleicht noch beigefügt: Die Demokratisierung des Kulturellen als Voraussetzung für vieles, was zurzeit unter dem Oberbegriff 1968 diskutiert wird, ist zur Utopie geworden: Zwar glänzt der goldene Käfig, in dem die Leute heute sitzen, spektakulärer als damals, aber er ist auch bedeutend ausbruchssicherer geworden.

Auf meine Frage im Gespräch, ob denn junge Leute heute über 2068 eher im Rahmen einer Utopie oder einer Dystopie diskutieren würden, antwortete eine Frau: Meist rede man über Dystopien. Bei Utopien sei man ratlos oder über ihren Inhalt nicht einmal zu zweit einig, geschweige denn in einer Gruppe.

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