Zwei Variationen über Wahrheit

1.

Wahrheit ist relativ. – Es ist innerhalb der Sprache keine Wahrheit denkbar, ohne dass «Wahrheit» als Begriff gesetzt und durch die Zuordnung einer bestimmten Konstellation von darauf bezogenen weiteren Begriffen «begründet» würde. Wahrheit innerhalb der Sprache denke ich mir als die Sonne eines Zentralbegriffs, die vom Planetenfeld einer Wörterkonstellation umgeben sein muss, um als Wahrheit zu erscheinen.

Jedoch: Begriffe fassen Wirklichkeit nur ungefähr – noch wenn sie gedacht werden könnten ohne die ideologischen Verzerrungen, die den aktuellen Herrschaftsverhältnissen geschuldet sind. Wirklichkeit ist in dem sie bezeichnenden Begriff nie ganz aufgehoben, weil er alles Unsagbare nicht mitmeint (ausser das Selbstgemeinte, das der Begriff aber nicht transportieren kann).

Daraus ergibt sich ein Paradox: Gerade das notwendige Setzen des möglichst richtigen Begriffs macht den Anspruch auf die wahre Aussage von vornherein unmöglich. In Sprache Gefasstes kann nicht wahr sein (freilich plausibler oder vernünftiger als anderes in Sprache Gefasste). Über das Unsagbare als Nicht-in-Sprache-Gefasstes lässt sich nichts sagen – ausser dass es in Diskursen machtlos bleibt.

2.

Halbgedachte Wahrheit. – Erscheint eine in Sprache gefasste Wahrheit als absolut, ist sie nicht zu Ende gedacht. Indem eine Wahrheit zu Ende gedacht wird, wird sie relativ. Am Ende einer Wahrheit öffnet sich der Blick auf ihre Bedingtheiten, ihre Voraussetzungen, ihre Aporien. Paradox: Ganze, also zu Ende gedachte Wahrheit ist relativ. Nur halbe Wahrheiten – «Dogmen» – erscheinen als absolute Wahrheit. Dogmatisch denken heisst: Die Sicherheit der unumstösslichen Wahrheit muss gerettet werden, indem man die Macht ergreift, um die Menschen zu nötigen, sie nicht zu Ende denken zu dürfen.

Der Schein der Wahrheit von gesellschaftspolitischen Diskursen rührt daher, dass sie sich in aller Regel aus bestenfalls halben Wahrheiten zusammensetzen. Andere halbe Wahrheiten werden – im politischen Welttheater ein Tabu – von den politischen Gegnern aller Couleur besetzt. Gerade deshalb muss man sie bekämpfen – und schon deshalb bleibt die eigene Wahrheit Ideologie.

(25./26.11.1989, 18.09.1997; 22.+29.01.2018)

 

Nachtrag

Nur um es auch hier klar gesagt zu haben: Die Summe aller halben Wahrheiten ergibt nicht «die Wahrheit».

(29.01.2018)

v11.5