Ein Grütter macht noch keine Literatur

Aber jetzt einmal konkret: Ich rede über dieses Grenzgebiet zwischen Belletristik und Journalismus auch aus Anlass der vier Sozialreportagen, die in diesen Tagen unter dem Titel «Alles bestens, Herr Grütter» erscheinen. Und ich rede auch deshalb so, wie ich rede, weil ich in diesem Grenzgebiet die Welthaltigkeit des Journalismus verteidige gegenüber der Sprachimmanenz der Belletristik.

Behauptung: Als Belletrist wäre es keine Kunst gewesen, nicht nur den Namen des Rechtsanwalts Grütter, sondern die vier Reportragen integral zu erfinden, die ich als Journalist mühsam zusammenrecherchiert habe. Und der belletristische Weg hätte Vorteile: Das entstandene Produkt würde bei weniger Recherche- und gleichviel Schreibaufwand mehr sogenannt literarische Substanz aufweisen, würde im Genre Erzählungen mehr Verkäufe generieren als im Genre Reportagen und mir so auch mehr kulturelles und soziales Kapital einbringen (das ökonomische wäre in beiden Fällen nahezu vernachlässigbar). Grund: Die Erfindung gilt mehr als die Findung, die künstlerische Formung mehr als die möglichst präzise Rapportierung des Vorfindbaren. Ersteres gilt als Kunst, letzteres bestenfalls als Kunsthandwerk.

Aber warum ist das so?

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Prozesse im Leben entfalten sich ja nur in seltenen Ausnahmefällen monokausal. Zumeist werden sie gesteuert durch den Zufall und die permanenten Interferenzen zwischen verschiedenen, kausal nicht zusammenhängenden Entwicklungen. Die Wirklichkeit besteht aus undurchschaubaren, rhizomartigen Kausalitätsknäueln und hat mit den monokausal logischen Abläufen, in denen zum Beispiel Bühnenwerke und Filme ihre Geschichten erzählen, wenig zu tun.

Sowohl belletristische als auch journalistische Texte legen der erzählten Geschichte eine narrative Struktur zugrunde, die die einzelnen Ereignisse, die zur Erzählung gestaltet werden, mehr oder weniger abstrahierend hintereinander ordnen. Allerdings: Noch wenn sie passagenweise gleiche Lösungen ergeben mögen, basieren die Vorgehensweisen von Belletristik und Journalismus auf unterschiedlichen Voraussetzungen.

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In der Belletristik ist die narrative Struktur grundsätzlich ein Teil der Erfindung. Sie ist zurückgebunden nicht an äussere Wirklichkeit, sondern an die Lebenserfahrung der erzählenden Person, an die Wertekonstellation, die sie vertritt, an ihr Erkenntnisinteresse und ihre ideologischen Hintergedanken. In der narrativen Struktur spiegelt sich somit die Absicht der Erzählenden über die Narration hinaus.

In dem Mass, in dem die Narrativität im Sinn dieser Absicht als logisch erscheint, in dem Mass ist sie im Sinn der Wirklichkeit, die sie abzubilden vorgibt, «subrealistisch» (Niklaus Meienberg).

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Im Journalismus ergibt sich die narrative Struktur aus der recherchierbaren Wirklichkeit. Sie liegt deshalb ausserhalb der Absichten der erzählenden Person. Die narrative Struktur ist grundsätzlich vorgegeben, sie ist nicht Einfall (Inventio), sondern Ausarbeitung (Elaboratio). Was die recherchierbare Wirklichkeit vorgibt, ist unüberschreitbar zurückgebunden an eine Welt, die in ihren objektiven, kausalen Bezügen nicht durch «dichterische Freiheit» veränderbar ist. In der narrativen Struktur der journalistischen Erzählung spiegelt sich somit vor allem die Nichtdurchschaubarkeit der Welt. Ideologische Hintergedanken können kaum in die narrative Struktur implementiert, sie müssen mit insinuierenden Formulierungen oder ausgewiesener Anwaltschaftlichkeit explizit gemacht werden.

In dem Mass, in dem die Narrativität im Sinn der stringenten Logik als unentschieden erscheint, in dem Mass ist sie im Sinn der Wirklichkeit, die sie abbilden will, vermutlich realistisch. Vermutlich deshalb, weil sich im journalistischen Alltag die Narrativität aus der Quellenlage ergibt, und heute durch Manipulation der Quellen routinemässig auf die journalistischen Narrative Einfluss genommen wird.[1]

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Darum gilt Belletristik als Kunst, Journalismus bestenfalls als Kunsthandwerk: Die narrative Struktur der belletristischen Erzählung erscheint wohltuend sinnfällig und ihre ideologische Absicht ist oft raffiniert verschlüsselt.

Dagegen ist die journalistische Erzählung realistischer, und ihre ideologischen Absichten sind durchschaubarer. Wobei gilt: Gegenüber der Nichtdurchschaubarkeit der Welt bleibt jeder Realismus eine Behauptung und jeder ideologische Positionsbezug deshalb ein säkular imprägnierter Glaube.

[1] «Beispielsweise arbeiten in Deutschland längst sehr viel mehr Vollzeitbeschäftigte in der PR-Industrie als im Journalismus. War Public Relations 1950 noch der Bittsteller des Journalismus, so ist der Journalismus heute längst zum Bittsteller, ja zum Knecht und zur Hure der PR herabgesunken.» (Jörg Becker: «Krieg an der Propagandafront: Wie PR-Agenturen und Medien die Öffentlichkeit entmündigen», in: Ullrich Mies/Jens Wernicke [Hrsg.]: Fassadendemokratie und tiefer Staat. Auf dem Weg in ein autoritäres Zeitalter. Wien (Promedia) 2017, S. 237).

(15.8.; 29.11.2012; 14.+19.01.; 18.07.2018)

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