Drei Verbeugungen

Am 12. Januar 2018 habe ich meine Redaktionsarbeiten am Mäander 12 unterbrochen und bin mit dem Zug nach Basel gefahren, um Abschied zu nehmen.

Zuerst besuchte ich in der Universitätsbibliothek die Ausstellung «Das linke Ohr» über den Komponisten Jacques Wildberger (1922-2006). Zwischen 1975 und 1979 lernte ich mit dem Ziel des Blockflötenlehrdiploms an der Scola Cantorum, einer Abteilung der Musikakademie Basel. Weil mich mein Instrument immer weniger, das aktuelle Musikschaffen dagegen immer mehr interessierte, belegte ich 1978/79 am Konservatorium – einer anderen Abteilung dieser Akademie – zusätzlich Komposition. Dort wurde Wildberger mein Theorielehrer. Bis zu meinem Weggang aus Basel und der definitiven Einsicht, dass ich kein Musiker sei, sass ich nun ein Jahr lang jede Woche in Wildbergers Arbeitszimmer. Er war ein guter Erzähler, der am Klavier jederzeit illustrieren konnte, worum es ihm ging. Es ging um Musik, um avantgardistische Musik, um politische Musik, um Politik.

Die Texte, Partituren, Bilder und Hörbeispiele denen ich jetzt in der Ausstellung begegne, machen mir klar, dass mich Wildberger stärker beeinflusst hat, als mir das bisher bewusst gewesen ist. Zum Beispiel lese ich von ihm folgendes Interview-Zitat: «Das Werk [...] kann über das Materiale hinaus mehr kritische Reflexion und damit mehr Aggression aufnehmen als die offene Aktion, die oft nur repetiert, was draussen vor sich geht. Das Werk ist unverlierbar, weil es im Gegensatz zur offenen Aktion mit präzise vorhersehbarem Ergebnis jederzeit wiederholt werden kann. Und wenn sein Autor über genügend Substanz und genügend Können verfügt, so kann es schliesslich einen Sinn bekommen jenseits des Privaten: Es kann erhalten bleiben als Stein des Anstosses, als Sandkorn im Getriebe, als Ärgernis.» Habe ich nicht später über meine und die Spracharbeit anderer stets auch in Kategorien wie Werk und Material nachgedacht und mich mit solcher Terminologie im Feld des Journalismus nicht immer verständlich machen können?

Viel später bin ich der künstlerisch und politisch unversöhnlichen Widerständigkeit im Materialen des Kunstwerks wieder begegnet in meinen Gesprächen mit der Künstlerin Lilly Keller. Aus diesen Gesprächen wurde schliesslich 2015 das Buch «Lilly Keller. Künstlerin». Zehn Tage vor meiner Basel-Fahrt, am 2. Januar 2018, ist sie nun knapp 89-jährig gestorben. Mein Nachruf trägt den Titel «Zum Tod einer Unterschätzten». Plötzlich fühle ich in der Ausstellung über Wildberger Keller an meiner Seite und mir wird klar, dass ich dem künstlerischen Ethos, das mich an ihr fasziniert und mich zum Beispiel zur Realisierung des Stückwerk-Projekts ermuntert hat, in den späten siebziger Jahren in Basel bereits einmal begegnet bin.

Später bin ich am Spalentor vorbei hinübergegangen zur Pauluskirche. Dort fand am frühen Nachmittag die Trauerfeier für den am 26. Dezember 2017 verstorbenen Philosophen Hans Saner (* 1934) statt. Gewürdigt wurde in dieser Feier zum Beispiel sein lebenslanges Engagement für das Werk seines Lehrers, des Philosophen Carl Jaspers. Gewürdigt wurde er aber auch selber als Philosoph, als einer, dem «Dissens» und «Anarchie» sympathisch gewesen und «die Befreiung, aus sich selber einen Anfang zu machen», ein wichtiges Anliegen gewesen sei.

Weil ihm die Möglichkeit dieser Befreiung so wichtig war, sind wir uns 1990 als politische Gegner gegenübergestanden. Als zuständiger WoZ-Redaktor für den Kulturboykott gegen die 700-Jahr-Feier der Eidgenossenschaft versuchte ich damals, unter dem Titel «Aufruf zum Schweigen» mit dem rhetorischen Zweihänder die unentschlossenen Kulturschaffenden für den Boykott zu gewinnen («In den neunziger Jahren wird es Kulturschaffende geben, die mitgemacht haben, und solche, die nicht mitgemacht haben»). Saner widersprach öffentlich: «Ich bin gegen jede Aufforderung an Kulturschaffende, sich der Boykottbewegung anzuschliessen und übernommene Aufträge zurückzugeben. Die Freiheit ihrer persönlichen Entscheidung ist mir wichtiger als die Geschlossenheit einer kollektiven Aktion.»[1]

Trotz dieser Kontroverse korrespondierten Saner und ich im gleichen Jahr 1990, nachdem ich ihm kaum drei Wochen vor dem «Aufruf zum Schweigen» ein «Konvolut» hatte zukommen lassen. Es ging um die Widerständigkeit von Poesie. Ich habe damals nicht nur von seinen Ausführungen profitiert, sondern als Unsicherer auch davon, dass er mich als Fragenden ernst genommen hat.

Von Jacques Wildberger und Lilly Keller habe ich gelernt, als Kulturschaffender, als den ich mich heute verstehe, mit möglichst wenig Konzessionen radikal zu arbeiten. Und von Hans Saner lernte ich als allzu oft manichäischer Moralist, dass man in der einen Sache öffentlich streiten und in einer anderen trotzdem im Gespräch bleiben kann.

[1] Fredi Lerch/Andreas Simmen [Hrsg.]: Der leergeglaubte Staat. Dokumentation einer Debatte. Zürich (Rotpunktverlag) 1991, S. 26 + 242f.

 

Nachtrag (29.03.2018)

Auf einer Typoskriptfassung des Werkstücks «Axiomatisch begründete Syntax» finde ich einen später gestrichenen Nachtrag, den ich aus Anlass von Wildbergers Tod am 23. August 2006 geschrieben habe. Darin heisst es unter anderem: «Meine letzte Erinnerung an ihn: Ende April 1996 folgte ich als WoZ-Journalist einer Einladung in das Casino Basel zum offiziellen Festakt anlässlich von Paul Sachers neunzigstem Geburtstag. Heinz Holliger brillierte, Pierre Boulez dirigierte, Sacher – mit blütenweisem Schal – winkte huldvoll über die Balustrade herunter. Als ich danach mit H. zusammen das Casino verliess, ging ich an den altgewordenen Theorielehrern des Konservatoriums vorbei: Robert Suter, Rudolf Kelterborn und eben Wildberger, die in einer Mischung von letzter Bohème und unbewusster Servilität auf den Jubilar zu warten schienen. Mir war es, als stünden da drei, die trotz allem Komponisten von Sachers Gnaden seien, und vielleicht war ich ungerecht. Ich ging an Wildberger vorbei, ohne ihn zu grüssen (vermutlich hätte er mich auch nicht mehr erkannt.)»

v11.5