«Subkultur»-Indizien bei Golowin und Hollstein

«A walk on the wild side»: Unter diesem Titel waren bis Ende Mai 1997 im Stapferhaus in Lenzburg Materialien zu den «Jugendszenen der Schweiz von den 30er Jahren bis heute» zu besichtigen[1]: Insignien von Jugendbewegungen, multimedial. Hinweise auf Halbstarke, Rocker und Punks; auf Mods, Yuppies und Technos, auf die politischen Szenen von 1968, 1980 und 1993 – kaum von den Strassen verschwunden in musealer Verfremdung inszeniert. Hinweise auf jeweils spezifische Settings von Attitüde, Outfit und Habitus, auf Freizeit- und Konsumverhalten, Wertvorstellungen, Sprachregelungen, Ausdruckmedien, Musikstile. Dokumente von Szenen, die teils Lebensstile propagierten, teils mit neuen Lebensformen experimentierten, teils Rebellionen inszenierten, indem sie Rebellion verweigerten. Unvereinbare Vielfalt von Subkulturen als Ausdruck einer fragmentierten Kultur. Bloss: Inwiefern sind solche Jugendszenen überhaupt «Subkulturen»?

Mitte der fünfziger Jahre begann in Bern der junge Sergius Golowin von «Volkskultur» zu sprechen, wenn er die für ihn nihilistischen Auswüchse der modernen Zivilisation kritisierte: gegen die «dröhnenden Fabriken» und den «Grosstadtluxus» stellte er Bräuche und Märchen und den «ewigen Geist» der gotischen Dome. Wenn er zehn Jahre später das gleiche Phänomen meinte, sprach er nicht mehr von «Volkskultur», sondern von «Untergrund»: Jetzt ging es ihm weniger um die gotischen Dome, als um die Lebensweisheit der Steinmetze. Bis heute, so seine Idee, gebe es unter der Hochkultur eine «Untergrund-Kultur» der namenlosen Leute, deren ExponentInnen die jeweiligen gesellschaftlichen AussenseiterInnen seien. Bänkelsänger und Hexen früherer Jahrhunderte waren für ihn «die grossen Aufrührer gegen alle ‘Stile’ der Oberschicht, diese ‘geordneten’, damit erbärmlich gezähmten Musen.»[2] So gut wie damals war ihm dieser kulturelle Untergrund – als «Sub-Kultur» – auch am Ende der sechziger Jahre notwendiger Nährboden für die sterile Hochkultur der gesellschaftlichen Eliten. Und was seinerzeit Zigeuner und fahrende Schüler, HausiererInnen und Gaukler gewesen waren, waren ihm die Hippies, die Rocker und Freaks jener Tage.

Gleichzeitig versuchte damals auch der Soziologe Walter Hollstein das Phänomen des «Untergrunds» zu beschreiben[3]: Sub- oder Teilkultur definierte er als «einen akzidentiellen Dissens von der herrschenden Kultur, der sich zeitlich beschränkt in eigenen Normen, Verhaltensweisen und Gruppenbeziehungen ausdrückt». Weil in der Theorie die Differenz zwischen Teil- und Gesamtkultur als «niemals grundsätzlich» vorgesehen war, führte Hollstein, beeindruckt vom politischen Schwung der 68er-Bewegung, einen neuen Begriff ein: «Das Subkultur-Theorem mag Gestalt und Bedeutung der Teenager-Kulturen zureichend erklären; der jugendlichen Protestbewegung […] wird es nicht mehr gerecht. Vielmehr handelt es sich beim bezeichneten Phänomen um eine Gegenkultur, die sich als entschiedene Opposition zum bestehenden System ausdrückt und auch so verstanden werden will.» Als er in einem Aufsatz einige Jahre später den Begriff «Subkultur» erneut skizzierte[4], formulierte er allerdings vorsichtiger: «Beat-Generation, Provo-Bewegung, Underground wollten nicht Subkulturen, sondern Gegenkulturen (‘counterculture’) sein. Inwieweit sie diesen Anspruch auch konkret gesellschaftlich einlösten, ist eine andere Frage.» Sie hätte schon damals beantwortet werden können: Der ideelle Anspruch, den eine Subkultur formuliert, hat sie noch nie zu dem gemacht, was sie postulierte.

Golowin und Hollstein haben ihre «Subkultur»-Begriffe ideologisch zurechtgebogen, um jene Szenen und Programme erklären zu können, für die sie sich interessierten. Darum fransen ihre Begriffe ins Unbelegbare aus – Golowins Begriff in eine mythische Geschichtskonstruktion («Volkskultur»), jener von Hollstein in politisches Wunschdenken («Gegenkultur»).

[1] Stapferhaus Lenzburg [Hrsg.]: a walk on the wild side. Zürich (Chronos Verlag) 1997.

[2] Sergius Golowin: Berner Märit-Poeten. Bern (Sinwel-Verlag) 1969, S. 107.

[3] Walter Hollstein: Der Untergrund. Zur Soziologie jugendlicher Protestbewegungen. Neuwied/Berlin (Luchterhand) 1969, S. 156ff.

[4] Walter Hollstein: Der Hedonismus in den «Subkulturen», in: Frankfurter Hefte. Zeitschrift für Kultur und Politik, Nr. 4/1975, S. 97.

(23.04.1997; 14.12.2017; 12.07.2018)

Dieses Werkstück entspricht dem Anfang des Aufsatzes «Subkultur: Fünf Faktoren und neun Thesen», der in der Fabrikzeitung Nr. 133/1997 erschienen ist (hier leicht redigiert).

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