Emanuel Friedlis Blick

Im Vorwort zum ersten «Bärndütsch»-Band von Emanuel Friedli (1846-1939) – jenem über die Region Lützelflüh (Bern, Francke-Verlag, 1905) –, kritisiert Otto von Greyerz (1863-1940) den Ansatz auch der «besten volkskundlichen Werke der letzten zehn Jahre»: «Alle jene zusammenfassenden Werke nämlich leiden an dem Fehler der Verallgemeinerung. Wie in der Mundart, so machen sich auch in Gebräuchen, Sitten, Anschauungen usw., von Ort zu Ort, oft innerhalb derselben Gemeinde, mehr oder weniger starke Unterschiede bemerkbar, sodass man bei der Feststellung einer volkskundlichen Tatsache in der Angabe des Ortes gar nicht genau genug sein kann.» Diese Genauigkeit attestiert er Friedli.

Was am Anfang des Jahrhunderts noch vorab für positivistisch-akademischen Jäger- und Sammlerehrgeiz stand, gewinnt heute überraschende kulturpolitische Brisanz. Die Verteidigung der Kleinräumigkeit bis ins Lokale – wie anders denn mit subkulturellem Engagement? – als Verteidigung von kultureller Identität ist vielleicht die einzige Verteidigungslinie, die sich gegen den neoliberalen Globalisierungsschub dieser Jahre halten lässt, um den Preis allerdings, dass man sich kampflos ins Hinterland der sich monopolisierenden Kapitalinteressen abschieben lässt, um nach jahrelangem Weg- und Umgeweht-Werden im Abseits der Kleinräumigkeit den aufrechten Gang neu zu erlernen.

(31.1.1997; 13.12.2017)

 

Nachtrag 1

Bei allem Respekt vor meinem damaligen Bemühen, gegen den Kapitalismus der neunziger Jahre eine haltbare kulturpolitische Verteidigungslinie zu postulieren: Aus heutiger Sicht ist diese Argumentation kapitalismuskritisch höchstens in einem konservativen Sinn.

Mein Denken in Antagonismen führte mich damals zu einem Kultur-Manichäismus, der die ganze bestehende Kultur,  weil vom feindlichen Einfluss kontaminiert, als uneigentlich verwarf. Aber vielleicht ist ja umgekehrt gerade jene Kultur uneigentlich, die sich auf diesen feindlichen Einfluss nicht einlässt? Wie doppelgesichtig die Verteidigung der Identität im Kleinräumigen und Lokalen ist, zeigt sich, wenn man nach den gängigen Waffen fragt, die dabei häufig eingesetzt werden: nämlich dumpfer ethnischer Chauvinismus und aggressiv-rassistischer Dünkel.

Nicht dass ich die widerständig-kulturellen Qualitäten einer trotzigen Verteidigung des Nahraums und eines genauen Hinschauens bestreite – trotzdem ist es falsch, die eigene kulturelle Identität ausschliesslich hier verwurzelt sehen zu wollen. Es ist geradezu eine kulturelle Identitätsfalle, sich dort zuhause zu fühlen, wo man wohnt: Jenen, die stolz sind darauf, dass ihr kleines Reich von dieser Welt ist, geht man mit Vorteil aus dem Weg. Deshalb ist die im Werkstück gemeinte kulturelle Identität kontaminiert von jener des Nationalkonservativismus, der sich vom unrettbar Faschistoiden nur abgrenzt, wenn er nicht anders kann.

Kultur, die sich nicht kontaminieren lassen will von dem, wogegen sie antritt, verfällt einem Reinheitswahn. Einer Lehre der kulturellen Reinheit aber genügt niemand – auch der, der sie vertritt, nur solange, bis er in den Spiegel schaut.

(02.05.2006)

 

Nachtrag 2

An den Schluss des ersten Nachtrags setzte ich ursprünglich noch die Frage: «Werde ich aufs Alter am Ende birnenweich liberal?» Hinzuzufügen wäre: Oder haben mir die Auseinandersetzungen um den Begriff der «ethischen Säuberungen», zum Beispiel auf dem Balkan, den Blick geschärft auf das Doppelgesicht von kultureller Identität und aggressivem Chauvinismus?

(27.09.2006, 12.07.2018)

 

Nachtrag 3

Wohl wahr: Subkulturen, die das Werkstück fordert, sind immer kleinräumige Phänomene, schon weil die Organisationsstrukturen für Grossräumigkeit fehlen. Deshalb war es wichtig, dass mir der Begriff «ethnische Säuberungen» den Blick für die Widersprüche kultureller Kleinräumigkeit geöffnet hat – auch wenn aus heutiger Sicht die Behauptung der «einseitigen serbischen ethnischen Säuberung» im Kosovo weniger Realität als NATO-Kriegspropaganda gewesen ist: Die NATO suchte damals den Vorwand für den Präzendenzfall, um sich «vom Verteidigungsbündnis zur globalen Interventionsmacht» wandeln zu können.[1]

[1] Zitiert nach: «Es begann mit einer Lüge». Interview mit Kurt Gritsch, in: Jens Wernicke [Hrsg.]: Lügen die Medien? Frankfurt am Main (Westend) 2017, S. 239+243. Vgl. auch: Jo Angerer/Mathias Werth: «Es begann mit einer Lüge», ARD-Dokumentarfilm (2001).

(08.12.2017)

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