Die Linken haben wieder ein Wort verloren

Zugegeben: Die Parole «Hoch die internationale Solidarität» tönte schon Mitte der siebziger Jahre – als ich sie mitzuskandieren begann – hohl: altlinke Folklore eben. Jene, die sie am Megafon skandierten, wussten selber, dass sie im Monat mehr verdienten als ihre Genossinnen und Genossen der sogenannten Dritten Welt im Jahr. So ist es einfach, lautstark solidarisch zu sein. Einen besseren Klang hatte für mich das mundartlich-aktionistische «Mitmarschiere – solidarisiere!»: Ein Appell an die Zaungäste der Anti-AKW-Demonstrationen in der zweiten Hälfte der siebziger und der jugendbewegten Saubannerzüge durch die Deutschschweizer Städte Anfang der achtziger Jahre. Abgespeckte Solidarität, pragmatisch, ohne den falschen Anspruch des weltrevolutionären Durchblicks.

Nun aber, seit dem Fall der Berliner Mauer im November 1989 hat der Begriff «Solidarität» eine ungeahnte Karriere und gleichzeitig eine bemerkenswerte Metamorphose gemacht: Jetzt reden in diesem Land andere von «Solidarität» und meinen anderes: Der klassenkämpferische Sinn ist abgetötet, der neue Sinn meint etwas diffus Nationalistisches, das gegen die obsolet gewordene «Neutralität» aufgebaut wird, die heute schon fast nur noch nach rechtsnationalem Isolationismus klingt.

Es ist leicht einsichtig: Wer «solidarisch» sein muss mit der UNO, der EU und der NATO, muss «Neutralität» in den «grundlegend neuen Situationen der Welt und Europas gründlich […] erörtern». (NZZ, 26.01.1991) Dafür wird vermehrt an die Solidarität der kleinen Leute appelliert – zum Beispiel wenn es um die Ablehnung von Lohnerhöhungen geht.

Die Linken haben wieder ein Wort verloren.

(07.02.1991, 03.04.1998; 05.12.2017; 11.07.2018)

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