Roger Monnerat will «Auto» sagen können

Gespräch mit dem WoZ-Kollegen Roger Monnerat über seine schriftstellerische Arbeit: In seinen Liedtexten wolle er auch Wörter brauchen können wie «Telefon» oder «Auto», und zwar ohne damit alle Konnotationen mitmeinen zu müssen, die solche Begriffe in den kritischen Diskurszusammenhängen hundertfach fragwürdig machten. Ihm schweben «einfache» Liedtexte vor, die gegen den alles durchdringenden Schwachsinn der kulturindustriellen Liederproduktion Terrain zurückerobern können. Gerade linke Lyrik sei beim Versuch, die Grenze zwischen Kritik und Affirmation zu überschreiten, immer wieder gescheitert; an diesem Punkt sei man um keinen Schritt über die gängigen bürgerlichen Klischees hinausgekommen.

Meinen Einwand verwirft er, Voraussetzung für den Zugang zur Affirmation in der sprachlichen Aussage sei, dass man die Sprache besitze respektive sich schreibend in ihrem Besitz wähnen könne. (Vermutlich ist sowieso jede öffentlich geäusserte sprachliche Affirmation doppelt gemoppelt: Jede öffentliche Äusserung – ob Negation oder Affirmation – bejaht ein Stück weit die Herrschaftsverhältnisse, um öffentlich werden zu können.)

Dagegen sagt Monnerat, er habe sich auch lange hinter Argumenten verschanzt wie jenem, vor der Poesie müsse zuerst die Sprache als ihr Rohstoff neu erfunden werden. Dabei sei es doch so: Poet oder Schriftsteller sei jeder, der sich als solcher verstehen wolle. Am Anfang stehe ein Willensakt des Subjekts, ein «Sich-Setzen» als Poet oder Schriftsteller, und das sei entscheidend. Danach werde man, wenn man lange genug durchhalte, von der Rezeption notgedrungen in die gesellschaftliche Rolle gedrängt, die man ja suche. Allmählich beginne diese Rolle, gleichsam als Hohlform (als Fetisch?) zu existieren und das Subjekt könne sie nun nach Belieben ausfüllen.

In meine Sprache übersetzt heisst Monnerats These: Das «Eigene» an der Spracharbeit findet sich nicht im Sprachmaterial, sondern darin, dass man sich selbst als Poet oder Schriftsteller «setzt». Bei der Bedeutung des Materials möchte Monnerat von den Besitzverhältnissen an der Sprache absehen. Jedoch: In einem Liedtext «Auto» zu sagen ohne Verkehrstote, Ozonloch, Benzinpreis, Autobahnbau etc. mitmeinen zu müssen; also «Auto» zu sagen in einer Art, als würde man in diesem Moment ein neues Wort erstmals aussprechen: Geht das? Ist es nicht so, dass dieses neue Wort niemand verstehen würde und der Preis dafür, dass das Wort «Auto» verstanden wird, eben der ist, dass ich es samt seinen aktuellen Bedeutungszusammenhängen übernehmen muss, wenn ich es brauchen will? Sind literarische Texte im Gegensatz zu anderen immanente Bezugssysteme, die auf das literarisch Gemeinte hin implodieren? Ist es nicht so, dass die verwendeten Wörter – von der Rezeption mit allen denkbaren gesellschaftlich aktuellen Konnotationen in Verbindung gebracht – explodieren in ein dem Text äusserliches Bezugsuniversum, das ihn vieldeutig schillern lässt jenseits der Intention jener Person, die ihn formuliert hat?

Gesetzt: Ein sehr bewusster Mensch hätte sich so weit unter Kontrolle, dass er in jedem Fall das sagt, was er meint. Hat er deswegen auch schon die Kontrolle darüber, was das, was er sagt, meint?

(22.01.1991; 05.12.2017; 11.07.2018)

 

Nachtrag 1

Heute vermute ich, dass die letzte Frage bejaht werden müsste. Jedoch: Dieser sehr bewusste Mensch könnte wissen, was man im Allgemeinen und in guten Treuen hier und heute unter einer bestimmten Aussage zu verstehen hat. Nicht wissen könnte er, wie diese Aussage im Einzelfall tatsächlich verstanden wird. So gesehen müsste die letzte Frage im Werkstück lauten: «Hat er deswegen auch schon die Kontrolle darüber, wie das, was er sagt, im Einzelfall verstanden wird?» Diese Frage ist in jedem Fall zu verneinen.

(18.03.1998; 05.12.2017)

 

Nachtrag 2

In Monnerats Fall hat sich seine These vom «Sich-Setzen als Poet oder Schriftsteller» bewahrheitet. Nach seinen nach dem Abfassen des Werkstücks erschienenen drei Romanen «Lanze Langbub» (1996), «Die Schule der Scham» (1999) und «Der Sänger» (2002) und kontinuierlichen Auftritten als Literat (zum Beispiel an den Literaturtagen in Leukerbad) wird ihm, so scheint es, die Rolle, die er damals angestrebt hat, tatsächlich immer mehr zuerkannt.

(29.10.2002)

 

Nachtrag 3

Jetzt, fünfzehn Jahre später, finde ich im Internet die Website «Roger Monnerat». Der neueste Eintrag in der Rubrik «Aktuell» ist mehr als zwei Jahre alt, und in den Medien bin ich seinem Namen seit längerem nicht mehr begegnet. Mag sein, er hat sich zurückgezogen. Mag aber auch sein, dass er sich als Schriftsteller auf Dauer doch nicht zu setzen vermocht hat. Das hätte mit ihm allerdings wenig zu tun: Unter den Bedingungen des heutigen Buchmarkts und des schrumpfenden Medienfeuilletons können AutorInnen ihre gesellschaftliche Rolle nur noch in der Saison, in der das neueste Buch auf dem Markt ist, spielen. Wer auf dem Deutschschweizer Markt nicht überdurchschnittlich erfolgreich ist, dem wird es nicht gelingen, regelmässig ins Rampenlicht des Literaturbetriebs zurückzukehren.

Heute gibt es in der Deutschschweiz wohl bloss wenige Dutzend AutorInnen, die existenzsichernde Einnahmen generieren, in der Öffentlichkeit kontinuierlich Präsenz markieren und insofern mit einer gewissen Planungssicherheit professionell arbeiten können. Der Berufsverband der Autorinnen und Autoren (AdS) führt auf seiner Website allerdings ein Lexikon «Schweizer Schriftstellerinnen und Schriftsteller der Gegenwart» mit Einträgen zu «mehr als 2000» Personen.

(29.11.+05.12.2017; 11.07.2018)

 

Nachtrag 4

Am 8. Februar 2020 erhielt ich von Roger Monnerat einen Brief: «Lieber Fredi, ich bin kürzlich über Google auf deinen Text zu mir gestossen und denke, mit deinem Nachtrag 3 liegst du richtig. Mein Schreiben ist inzwischen privat geworden, in dem Sinne, dass ich ja nie das Bedürfnis hatte, mit meiner grundsätzlichen Ablehnung des seit 1989 zum Selbstlauf gewordenen kapitalistischen Wahnsinns zur allgemeinen Unterhaltung beizutragen. Wenn ich weiter meiner Schreibtätigkeit nachgehe, dann, um trotz dieses Wahnsinns das Leben weiterhin zu lieben, oder pathetisch gesagt: aus Notwehr. In meinem Gedichtband, der im Februar herauskommen soll, wird Monnerat ‘Auto’ gesagt haben können, Telefon aber hat er keines… mit herzlichem Gruss, Roger.»

Der angesprochene Gedichtband heisst «Flügel zum Nichtfliegen» und ist im Morio-Verlag Heidelberg erschienen. Übrigens hat Monnerat darin (S. 15) tatsächlich «Auto» gesagt, auf berührende Weise, wie ich finde – nämlich so:

«An der Tankstelle im Shop fand ich
zwischen Rock und Rap
eine CD mit Schuberts Lebenstraum.

Ich fuhr damit dem Fluss entlang in den Abend,
die rechte Hand am Lenkrad,
in die linke den Kopf gestützt,
mit der Landschaft, die mir im Spiegel folgte
und von vorne entgegenkam, dachte ich
an die alten und die neuen Lieder von Toten,
deren Gräber es schon lange nicht mehr gibt,
und Wiedergängern, die durch den Äther geistern
von Radiostation zu Radiostation.»

(19.02.2020)

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