Warum Präzision unpräzis ist

Es gibt eine Grenze der sprachlichen Präzision, die sich am besten paradox ausdrücken lässt: Je präziser die Formulierung, desto beschränkter gelingt die Abbildung des beschriebenen Phänomens. Umgekehrt: Die unbeschränkte, also vollständige Beschreibung des Phänomens ist vollständig unpräzis.

Wie das?

Während ein Phänomen in der Realität in jedem Moment multikausal und vielschichtig ist, gelingt sprachliche Abbildung immer nur monokausal. Vielschichtigkeit wird – etwa in der Lyrik – durch Metapherngestöber nur vorgetäuscht und ist eigentlich ein Ausdruck artikulatorischer Überforderung. Multikausalität muss bei der Schreibarbeit Satz für Satz durch hintereinander geschaltete Monokausalität ersetzt werden. Je länger die Reihe mit dem Ziel der letztendlichen Präzision wird, desto fragmentierter, also unpräziser in Bezug auf das Ganze, werden die einzelnen Sätze der Reihe.

Wird der sprachliche Ausdruck umgekehrt zugespitzt, um Prägnanz und den Schein von Präzision zu erreichen (der sich aus dem rezeptiven Staunen über die pointierte, Evidenz heischende Formulierung ergibt), muss die Kette der monokausal differenzierenden Wörterreihe so stark wie möglich verkürzt werden. Dadurch wird die Darstellung zugespitzter, aber auch zufälliger, weil unvollständiger. Während zur vollständigen Beschreibung Sprache als Fluidum das Phänomen von allen Seiten umfluten müsste, macht der präzise Ausdruck Sprache zum Degen, mit dem das Phänomen mit einem möglichst präzisen Stich getroffen werden soll wie der Matador mit einem einzigen Zustossen den Nacken des Stiers tödlich zu treffen versucht.

Die Inszenierung solch sprachlicher Präzision ist wie der Stierkampf ein ritualisiertes Spektakel: In beiden Fällen ist das Ziel die möglichst elegante Erle(di)gung eines fokussierten Gegenübers zuhanden eines Publikums. Der Inszenierung geht ein instrumentelles Verhältnis zum Gegenüber voraus: Man wählt es nicht zuletzt deshalb, weil man sich fähig wähnt, es elegant zu erle(di)gen.

Sprachspiele, die Spektakel versprechen, dienen den Sprechenden mehr als dem Besprochenen. In Dienst gestellte Sprache verspricht kein Spektakel. Nur was ich liebe, kann ich wahrhaftig abbilden. Nur was ich umfassend beschreibe, verletze ich nicht. Auch wenn ich, um irgendeinmal präzis zu werden, Satz für Satz unpräzis bleibe.

(31.7.1997; 28.11.+4.12.2017; 09.07.2018)

 

Nachtrag

Zu viel Pathos am Schluss. Einerseits entlarvend, andererseits weltfremd.

Entlarvend ist aus heutiger Sicht, dass die meisten Stückwerk-Werkstücke ziemlich das Gegenteil dieser geforderten Schreibhaltung belegen. Sie sind häufig in Matadorenprosa abgefasst: Wo ich einen Stiernacken vermute, beginne ich mit dem Degen meiner Sprache zuzustossen – statt treffend nicht selten spitzfindig.

Und als weltfremd empfinde ich heute folgendes: Mit dem Schreiben verletzen kann ich vor allem, wer lesen kann, also Menschen. Darum bezieht sich der Schluss des Werkstücks sinnvollerweise vorab auf die Form der journalistischen Porträts. Bis zum Entstehen des Werkstückes 1997 habe ich zwei, drei Dutzend porträtartige Texte über Kulturschaffende veröffentlicht – seither nebst weiteren gegen zweihundert Berufsporträts, die vier Sozialporträts des Buchs «Alles bestens, Herr Grütter» und das Porträt in Buchform von «Lilly Keller. Künstlerin».

Tatsächlich habe ich mich jederzeit bemüht, beim Herstellen dieser Texte nicht zu verletzen. Allerdings war dabei nicht die Beschwörung von Wahrhaftigkeit und umfassender Darstellung nützlich, sondern die handwerkliche Sorgfalt: Wer sich für ein Porträt zur Verfügung stellte, erhielt von mir in jedem Fall das Recht, meinen Text integral gegenzulesen und kritisierend Änderungen vorzuschlagen, bevor ich ihn zum Druck weitergab. Wichtiger als die Präzision der sprachlichen Striche war das Einvernehmen mit der porträtierten Person. Journalismus war mir so gesehen mehr und anderes als Spracharbeit.

(29.11.+4.12.2017; 09.07.2018)

v11.5