Der Schein des Gleichen

Horkheimer sagt: «Das Wesen der Dinge ist ein Unbegriff. Losgelöst von Raum und Zeit hat er keinen Sinn. Der Begriff des Wesens wird gebildet von den jeweiligen Interessen aus. Er gewinnt seine Bedeutung nur, wenn echte gesellschaftliche Interessen bei seiner Bildung beteiligt sind.»[1] Wittgenstein sagt: «Die Bedeutung eines Wortes ist sein Gebrauch in der Sprache.»[2]

Zwei fast gleichzeitig formulierte Gedanken – jener von Horkheimer 1952, jener Wittgensteins um 1944 –, die nicht grundsätzlich Verschiedenes auszudrücken scheinen, man möchte meinen: im Gegenteil. Trotzdem entstammen sie zwei Denktraditionen im deutschen Sprachraum, die sich gegenseitig ignorierten oder verurteilten. Horkheimer schrieb: «Die positive Philosophie, gleichviel ob sie die Tatsache, den Wert oder das Sein verkündet, lügt.»[3] Insbesondere «die Tatsache» ist auch ein Seitenhieb gegen Wittgenstein, der der Meinung war, mit seinem «Tractatus logico-philosophicus» «die Probleme im Wesentlichen endgültig gelöst zu haben». Dieser beginnt so: «1. Die Welt ist alles, was der Fall ist. / 1.1 Die Welt ist die Gesamtheit der Tatsachen, nicht der Dinge.»[4]

Horkheimer sagt also: Das Wesen der Dinge ergibt sich aus den «echten» gesellschaftlichen Interessen. Wittgenstein sagt, das Wesen der Dinge sei blosser Schein, was es gebe, seien Tatsachen. Ich verstehe das so, dass Sprache gewordene Welt für Horkheimer «gemacht», für Wittgenstein «geworden» ist.

Zwei im Grundsatz unvereinbare Sprachspiele also. Aber sie bringen, wie die beiden Zitate nahelegen, ähnliche Denkfiguren hervor. Scheinbar?

[1] Max Horkheimer: Späne, in: Gesammelte Schriften Bd. 14. Frankfurt am Main (Fischer) 1988, S. 197.

[2] Ludwig Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen, in: Werkausgabe Bd. 1. Frankfurt am Main (suhrkamp), 1984, S. 262.

[3] Max Horkheimer: a.a.O., S. 124.

[4] Ludwig Wittgenstein: Tractatus, a.a.O., S. 10+11.

(25.4.1989, 27.6.1997; 28.11.+04.12.2017; 09.07.2018)

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