«Stunde Null»

Je mehr etwas so ist, wie es ist, in der öffentlichen Wahrnehmung aber nicht so sein darf, desto mehr erscheint das, was nicht sein darf, in der öffentlichen Wahrnehmung als haltlose Behauptung. Das ist das Geheimnis um die Entstehung von Ideologie im Interesse der Herrschaftsverhältnisse. Was gilt, ist weder das Reale noch das Wahre, sondern das für den Machterhalt Günstige.

In der «Stunde Null» am 8. Mai 1945 in Deutschland zum Beispiel wurde der Begriff des «Antifaschismus» von der oppositionellen Kampfparole per sofort zur unhinterfragbaren Staatsideologie. Sie musste deshalb unhinterfragbar sein, weil sie die Kontinuität überdecken sollte: Das «antifaschistische» Nachkriegsdeutschland und sein Wirtschaftswunder ist von hunderttausenden von ehemals überzeugten Nationalsozialisten mitaufgebaut worden. Erst die deutsche Protestbewegung von 1968 thematisierte diese ideologische Konstruktion.

(Jan., 11.02.1995; 30.08.2005; 27.11.+1.12.2017; 06.07.2018)

 

Nachtrag 1

Für solche Konstruktionen schien mir immer der Kampf der interessierten Wirtschaftslobby um die Ersetzung des Begriffs «Atomkraft» durch «Kernkraft» paradigmatisch. Dieser Kampf wurde geführt, weil «Atomkraft» durch die begriffliche Nähe zur «Atombombe» unkontrollierbare Zerstörungskraft suggerierte und jederzeit daran erinnerte, dass «Atomkraftwerke» – gerade wegen der Unlösbarkeit der langfristig sicheren Endlagerung von hochradioaktivem Abfall – eine zeitlich unabsehbare Drohung bedeutet. «Kernkraft» dagegen soll das Unmögliche als Tatsache behaupten, nämlich dass es neben der «schmutzigen» militärischen «Atomkraft» auch eine saubere zivile gebe. Abgespalten werden soll zum Beispiel auch das Wissen, dass aus den Wiederaufbereitungsanlagen immer wieder waffenfähiges Plutonium verschwindet. Ich hoffe, nicht mehr zu leben, wenn dieses als Drohmittel in der Erpressungsrhetorik von politischen Grosskriminellen wieder zum Vorschein kommen wird.

Letzthin bin ich bei der Lektüre von C. A. Loosli-Texten auf eine analoge Begriffsalchimie im Rahmen der schweizerischen Sozialgeschichte gestossen: Seit Beginn der Zehnerjahre des zwanzigsten Jahrhunderts haben Behörden und Politiker – insbesondere im stark betroffenen Kanton Bern – versucht, den von Jeremias Gotthelf im Roman «Bauernspiegel» schon 1837 diskreditierten Begriff der «Verdingkinder» durch jenen der «Pflegekinder» zu ersetzen. Ziel der neuen Sprachregelung war zweifellos die Weiterführung der Ausbeutung von fremdplatzierten Kindern als unbezahlte Knechte und Mägde im Interesse der Bauernschaft.

(26.08.2006; 27.11.2017)

 

Nachtrag 2

Im Werkstück brauchte ich für das, was öffentlich nicht sein dürfe, den Begriff «haltlose Behauptung». Heute werden solche «Behauptungen» mit dem Begriff «Verschwörungstheorien» ausgegrenzt. Mich faszinieren seit längerem insbesondere die unterdessen Bibliotheken füllenden Kontroversen um die Narrative rund um die Ermordung des amerikanischen Präsidenten J. F. Kennedy am 22. November 1963 und um die Anschläge vom 11. September 2001 in New York. In beiden Fällen weisen die Erzählungen und Sprachregelungen der offiziellen Untersuchungskommissionen derartige Widersprüche auf, dass es auch mir als Gebot der Vernunft erscheint zu fragen: Wenn es so, wie es offiziell behauptet wird, offensichtlich nicht gewesen sein kann, wie ist es dann gewesen? Bereits eine solche Frage öffentlich zu stellen, weist mich allerdings als einen aus, der an verschwörungstheoretischen Geistesstörungen leiden könnte. Diese Diagnose ist zwar noch nicht integriert in die Internationale Klassifikation der psychischen Krankheiten (ICD-10). Aber was nicht ist, könnte ja eines Tages werden – welchselbige Vermutung selbstverständlich als Verschwörungstheorie bezeichnet werden muss.

 (27.11.+1.12.2017; 06.07.2018)

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