Jean Gebser lesend

1.

Schizophrenie des Rationalismus. – «Die Ratio wird, metabolistisch in eine überspitzte Rationalisierung umschlagend, ohne es selber zu bemerken oder auch nur zu ahnen, zum minderen Spielball der Psyche»[1]: Der sich immer weiter radikalisierende Rationalismus wird genau an jenem Punkt schizophren, an dem die – längst nicht mehr bewusste – Rückbindung der Ratio an die Psyche reisst. Fällt die Verbindung zwischen dem Denkbaren und dem Lebbaren weg, wird vielleicht das Denkbare unermesslich; gleichzeitig aber die Lebensunfähigkeit absolut.

2.

Was ist Sprache? – Meine Ausgangsfrage in «Konvolut»: Wem gehört die Sprache? verdeckt die vorausgehende: Was ist Sprache überhaupt? Genauer: Was sind Wörter? Erst wenn diese Frage beantwortet ist, könnte ja entschieden werden, inwiefern «Wörter» und «Sprache» jemandem gehören können. Für Gebser ist das Wort auf der archaischen Bewusstseinsstufe «Wurzel», auf der magischen «Macht» respektive «Laut», auf der mythischen «Bild» und auf der mentalen «Formel», «Begriff» oder Buchstabenkonstellation.[2]

[1] Jean Gebser: Ursprung und Gegenwart. Erster Teil (Gesamtausgabe Band 2). Schaffhausen (Novalis Verlag). 1986, S. 164.

[2] Gebser, a.a.O., S. 141+184.

(23.2.1993; 23.11.2017)

 

Nachtrag

In Gebsers Schema entspricht meine Position dem Sprachverständnis der magischen Bewusstseinsstufe: Sprache ist Laut werdende Macht: Die Bedeutung der Wörter bestimmen jederzeit gesellschaftliche Konventionen. Wer eine gesellschaftliche Konvention beeinflussen kann, erringt ein Stück weit die Definitionsmacht über die Schlüsselbegriffe in einem konkreten Bereich. Macht übt er dann aus, wenn er kommuniziert, also Macht durch Sprache aktualisiert, indem er sie ausspricht: So wird mit akustischen Lauten Macht ausgeübt.

Übrigens sieht Gebser die rationalisierende Zurichtung der Wörter zur blossen Formel als Degradierung: «Es bedurfte der Jahrhunderte, um das Wort so weit zu entvitalisieren und zu entmythisieren, damit es, nicht mehr von der Fülle des Bildes belastet, den klargedachten Begriff zum Ausdruck zu bringen vermochte, um schliesslich heute, da dieser Prozess sich selbst zu weit in das rationalistische Extrem getrieben hat, das Wort, das einst Macht war und dann Bild, zur blossen Formel zu degradieren.»

Mag sein, hier schwingt auch die Differenz mit, die ich zwischen Poesie und «Konkreter Poesie» sehe: Für die erstere sind Wörter Mittel zum Zweck, mit sprachlichen Bildern und Begriffen Aussersprachliches anzusprechen. Für letztere sind Wörter blosser Zweck: Steine auf dem Brett eines selbstreferentiellen Spiels (siehe hier, S. 238).

(02.04.2001; 30.11.2017; 05.07.2018)

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