Die Entdeckung eines zweiten Sprachuniversums

In den Jahren 2003 und 2004 betätigte ich mich als Kolumnist für die «Neuen Wege», die Zeitschrift für Religiösen Sozialismus, die seit dem Relaunch im Mai 2018 den Untertitel «Religion.Sozialismus.Kritik» trägt.[1] Im letzten meiner elf Beiträge versuchte ich die Frage zu beantworten, warum ich selber kein «Religiöser Sozialist» sei und stellte unter anderem folgende These auf:

 «Ich kann mir die Entstehung der menschlichen Sprache nicht anders denn als allmähliche Ausdifferenzierung von tierischen Lauten vorstellen. Die differenziertere Organisation des sozialen Raums der Menschen bedingte die Ausdifferenzierung dieser Laute. So entstand Sprache als lautlicher Spiegel der sozialen Ordnung. Der Motor dieses zwischen den Polen Recht und Unrecht aufgespannten Diskurses war das jeweilige Interesse der Sprechenden. Im Laufe der Jahrzehntausende wurde dieser Diskurs von einem zweiten überformt, der den allmählichen Selbstbewusstwerdungsprozess der frühen Menschen spiegelt: Über dem sozialen entstand ein existentieller Diskurs, aufgespannt zwischen den Polen Leben und Tod und mit dem Motor einer nicht-interessegeleiteten Instanz (‘Wahrheit’). Seither gibt es zwei grundsätzlich verschiedene Diskurse, die mit den Bausteinen der einen und gleichen Sprache gebaut worden sind. Sogar wenn sie das Gleiche sagen, meinen sie Verschiedenes: Sie beziehen sich dauernd, aber immer nur metaphorisch aufeinander.»

Diese beiden Diskurse bezeichnete ich als soziales respektive existenzielles «Sprachuniversum», wobei ich ersterem als ein «Kontinent» den Sozialismus, letzterem die Religionen zuordnete. Die Idee eines religiösen Sozialismus deutete ich danach als Vermengung dieser beiden Sprachuniversen und zog für mich folgenden Schluss: «Wer für die Gerechtigkeit der Welt betet, führt eine metaphorische Rede und bezeugt das mit einer symbolischen Handlung. Menschen beten um Gerechtigkeit aus dem Bedürfnis heraus, gläubig und sozial verantwortet leben zu wollen. Das respektiere ich. Ich befürchte bloss, die Verwechslung dieser Rede mit Sozialismus sei heillose Sprach-Alchemie. Ich bin zutiefst überzeugt, dass kein Gott hilft (noch nötig ist), um die Welt gerecht und menschgemäss zu organisieren. Darum bin ich kein Religiöser Sozialist.»[2]

Nach dem Abschluss dieser Kolumne lässt mir die These keine Ruhe. Immer wieder kehren meine Gedanken zurück zum Antagonismus zwischen diesen zwei Sprachuniversen, zwischen existentieller und sozialer Weltwahrnehmung, zwischen den beiden berechtigten, aber nicht vereinbaren Ansprüchen, die Welt in Sprache gleichzeitig gerechter und wahrer abzubilden. Unterdessen bin ich überzeugt, dass die eine und gleiche Sprache, die ich brauche, aus zwei gegenseitig und metaphorisch aufeinander bezogenen Fremdsprachen besteht, die schwierig ineinander zu übersetzen sind.

[1] Der Relaunch der «Neuen Wege» erfolgte mit der Ausgabe Nr. 5/2018 auf Anfang Mai. Am 5. Mai – sinnigerweise am 200. Geburtstag von Karl Marx – wurde «das neue Kleid» der 112-jährigen Zeitschrift mit einem Fest im Kirchgemeindehaus Offener St. Jakob in Zürich gefeiert. Umrahmt von Brecht-, Tucholsky- und Hölderlin-Liedern (Rea Claudia Kost, Sopran und Daniel Fueter, Klavier) antworteten mit zum Teil sehr originellen Statements sieben Leute auf die Gretchenfrage «Wie hast du’s mit der Religion am 200. Geburtstag von Karl Marx?»: Jacqueline Fehr, SP-Regierungsrätin im Kanton Zürich, der Schriftsteller Gerhard Meister, die betagte Aktivistin Louise Schneider, der SP-Nationalrat Cédric Wermuth, die palästinensische Autorin Sumaya Farhat-Naser, die eben pensionierte SRF-Journalistin Iren Meier und der Historiker Jo Lang. Es war ein schöner und anregender Abend.

[2] fl.: «Bin ich am Ende ein Religiöser Sozialist?», in: Neue Wege, Nr. 11/2004.

(10.2004; 04.+05.04.; 09.05.2018)

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