Editorial zum Mäander 16

Anfang 1990 haben in der Schweiz zwei innenpolitische Ereignisse kollidiert. Zum einen war die offizielle Schweiz daran, für 1991 die «700-Jahr-Feier der Eidgenossenschaft» zu organisieren. Zum anderen wurde der sogenannte Fichen-Skandal öffentlich, der darin bestand, dass die Schweizerische Bundesanwaltschaft über Jahrzehnte nahezu eine Million SchweizerInnen, AusländerInnen, politische Organisationen und nicht zuletzt viele Kulturschaffenden unter geheimdienstliche Beobachtung gestellt hatte.[1] So entstand die Situation, dass die Kulturschaffenden zur kreativen Mitarbeit an einer Feier jener offiziellen Schweiz aufgefordert wurden, die viele von ihnen wegen vermuteter politischer Dissidenz vom Staatsschutz hatte überwachen lassen.

Aus diesem Grund riefen die Schweizerische Autorinnen und Autoren Gruppe Olten und die Wochenzeitung (WoZ) am 5. Februar 1990 zum «Kulturboykott» gegen diese 700-Jahr-Feier auf. Diese kulturpolitische Kampagne führte von einer Boykottdrohung mit der Forderung nach der «vollen Einsicht in Fichen und Akten» über den definitiven Boykott, den rund 500 Kulturschaffende unterzeichneten, bis zum «Kultursymposium 90» am 3. und 4. November 1990 in Zürich.[2]

Die Kampagne wurde von einem Boykottkomitee koordiniert, dem ich als Delegierter der WoZ angehört habe. Ich habe deshalb damals an den öffentlichen Verlautbarungen des Kulturboykotts mitformuliert und in der WoZ mit mehreren polemischen Beiträgen versucht, Kulturschaffende zur Stellungnahme zu 700-Jahr-Feier, Fichenaffäre und Kulturboykott zu provozieren. (Die wichtigen journalistischen Arbeiten finden sich hier als Liste weiterführender Links, das damals angelegte WoZ-Archiv zum Thema liegt im Schweizerischen Sozialarchiv).

Gleichzeitig und in den folgenden Jahren habe ich zu diesem Boykott für die Schublade einige Werkstücke geschrieben, die in diesem Mäander zusammengestellt sind. Sie dienten der Selbstvergewisserung und der Selbstkritik, insbesondere zu meinem Ende 1990 öffentlich vorgetragenen Vorschlag, den Boykott – noch vor der Eröffnung der 700-Jahr-Feier im 10. Januar 1991 in Bellinzona – zum abgeschlossenen «Kunstwerk Nein» zu erklären. Mein Vorschlag unterlag in der Debatte, das Kulturboykottkomitee machte 1991 weiter, ich trat aus dem Komitee zurück. Dieses versuchte, den Boykott während des Jubeljahrs öffentlichkeitswirksam im Gespräch zu halten, was ihm nur noch sehr punktuell gelungen ist.

[1] Einen umfassenden Überblick zu den damaligen Ereignissen bietet die Dissertation von Dorothee Liehr: Skandal und Nation. Politische Deutungskämpfe in der Schweiz 1988-1991. Marburg (Tectum Verlag) 2012.

[2] Die ganze Aktion ist dokumentiert in: Fredi Lerch/Andreas Simmen [Hrsg]: Der leergeglaubte Staat. Kulturboykott: Gegen die 700-Jahr-Feier der Schweiz. Dokumentation einer Debatte. Zürich (Rotpunktverlag) 1991.

(vor 02.01.2009; 07.,13.+19.03.2018)

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