Betretenes Schweigen

Als ich 1981 zu veröffentlichen begann (geschrieben hatte ich schon zuvor), machte ich bald folgende Beobachtung: Erledigte ich einen journalistischen Auftrag, den jemand erledigen musste, dann erhielt ich nicht selten schulterklopfende Rückmeldungen im Sinn von: Gut, dass du das geschrieben hast. Schrieb ich jedoch etwas, das mir wichtig war, zum Beispiel weil das Thema auch mit mir etwas zu tun hatte, blieben solche Rückmeldungen meist aus. Die für mich wichtigen Texte lösten oft «betretenes Schweigen» aus, wie ich mir zu sagen angewöhnte. In der ersten Zeit verletzte mich diese Beobachtung, später wurde sie mir egal, noch später nahm ich sie als Kompliment, weil ich mir sagte, offenbar habe man verstanden, dass es mir diesmal um etwas gegangen sei.

Nun beobachte ich bei der Arbeit am Stückwerk, bei der ich dauernd Dokumente öffne, die ich seit zehn oder mehr Jahren nicht mehr gelesen habe, dass mich manchmal etwas beschleicht, das ich nicht anders denn als betretenes Schweigen bezeichnen kann.

Ich sehe zwar beim Wiederlesen den Ernst des Schreibenden, seine beträchtliche weltanschauliche und erkenntnismässige Ambition. Ich konstatiere das Flair für apodiktische Formulierungen, das mir eigentlich gefällt und als Vorliebe für starke rhetorische Effekte durchgehen könnte. Allerdings ist mir gleichzeitig klar, dass diese Formulierungen in meinem Fall auch mit der Kompensation von Minderwertigkeitsgefühlen zu tun haben. Ich weiss, dass ich aus diesem Grund von Fall zu Fall über meine intellektuellen Möglichkeiten hinaus formuliert habe; dass ich mit einer Sprache, die ich nicht beherrschte, über Phänomene redete, die ich nicht genügend überblickte. Dazu kommt, dass ich auch weiss, dass mich damals weniger die inhaltliche Kritik verletzt hätte als jene an der Machart der Werkstücke. Obschon ich mich bis heute als Journalist bezeichne und mich notorisch dagegen wehre, als Schriftsteller tituliert zu werden: Bei diesen Werkstücken schrieb einer mit schriftstellerischer Ambition, und manchmal scheiterte er unübersehbar.

Das sind die Momente, in denen ich jetzt lustlos vor dem Bildschirm sitze. Ich arbeite ja mit der Spielregel, die Werkstücke bloss redaktionell bearbeiten zu dürfen und Nachträge verfassen zu müssen, wenn ich gesagt haben will, dass ich nicht mehr meiner damaligen Meinung bin oder wenn Fehlendes ergänzt werden soll. Vor dem Bildschirm denke ich einerseits: Das hätte man anders sagen müssen, oft auch mit bescheidenerem Anspruch – andererseits aber auch: Es würde mich damals verletzt haben, wenn man das Werkstück in der Art umgeschrieben hätte, wie ich es jetzt eigentlich umschreiben müsste. Und falls umschreiben: Wäre das noch ein redaktioneller Eingriff oder wäre es ein Fall für einen Nachtrag? Und: Wo beginnt der Selbstbetrug, wenn man sich zum Aussenstehenden seiner selbst zu machen versucht? Ich sitze und sehe: Da formuliert einer, der ein anderer hätte sein müssen, um das sagen zu können, was jener, der formulierte, von sich zu sagen gefordert hat. Und dann eben: betretenes Schweigen.

v11.5