Die Hoffnung auf postmoderne Inhalte

Nachdem die künstlerischen Avantgarden der Moderne vor allem daran gearbeitet haben, «es» neu zu sagen, also das an sich Bekannte – das von den Unaufgeklärten lediglich eingesehen werden muss – auf dem jeweils avanciertesten Stand der Materialbearbeitung abzubilden, geht es nach der Moderne darum, Neues zu sagen. Jetzt steht wieder das Thema, nicht seine formale Bewältigung im Fokus. Damit wird Kunst wieder primär zur Frage des Inhalts, der nicht über ideologische «Gewissheiten» als gegeben vorausgesetzt wird, sondern gesucht werden muss. Zur Gestaltung des Gefundenen wird das ganze Formenrepertoir – auch jenes der Populärkultur – ausgeschöpft.

Unter diesem Aspekt hat der postmoderne Formenpluralismus durchaus Bedeutung und Sinn: Das formale «Anything goes» stellt sich in den Dienst des wieder verbindlicheren, «gemeinteren» Inhalts. Formal wird gerade deshalb alles möglich, weil das Formale nicht gemeint ist (müsste sich demnach nun ein Kanon der gemeinten Inhalte herausbilden?). Umgekehrt war in der Kunst der Moderne inhaltlich alles möglich (auch das inhaltliche Nichts), weil der Inhalt nicht primär gemeint war.

In dem Mass, in dem das Primat in der Kunst wieder von der Form auf den Inhalt übergeht, in dem Mass schreitet die Kunst über die Moderne hinaus.

(07./09.03.1993; 09.11.2001)

 

Nachtrag 1

Interessant finde ich aus der Distanz von fast einem Vierteljahrhundert, wie unsicher ich damals in der Einschätzung dessen war, was ich unter postmoderner Kunst verstand. Postuliert dieses Werkstück die Hoffnung auf eine Erneuerung der Inhalte gegenüber den elaborierten Formalismen der Moderne, konstatierte ich ein halbes Jahr später in den Notizen am Rande des Jubiläums zum 75jährigen Bestehen der Berner Kunsthalle «das additive Nebeneinander» von Inhalten, die – weil ohne erkennbaren Sinn – «im Bewusstsein spurlos verschwindet».

Heute scheint mir, dass das vorliegende Werkstück eine doppelte Fehleinschätzung dokumentiert: Einerseits ist mir die Kunst seither – soweit ich sie mitbekommen habe, ich bin kein Experte – zwar durch die Sprengung des modernen Formenkanons, nicht aber durch ein für mich erkennbares Primat des Inhalts aufgefallen. Und zum anderen wäre es geradezu reaktionär, «ein[en] Kanon der gemeinten Inhalte» zu fordern: In der europäischen Kunst des 20. Jahrhunderts bestimmte ein solcher am ehesten die Praxis der faschistischen respektive nationalsozialistischen Kunst und jene des Sozialistischen Realismus.

Ich halte mir zugute, dass ich damals die Hoffnung gehabt haben mag, die Sprengung von formalen Konventionen öffne das Feld für jene sozialkritischen Inhalte, die mir persönlich wichtig waren. Aus dieser Hoffnung das abzuleiten, was ich in diesem Werkstück abgeleitet habe, hat mich in die Irre geführt.

(21.11.2017)

 

Nachtrag 2

Jetzt, ein halbes Jahr später, während des abschliessenden Korrekturumgangs am «Stückwerk», taucht an dieser Stelle ein Verdacht auf, der mich betroffen macht. Es stimmt wohl schon, dass der «Kanon der gemeinten Inhalte» in der Kunst eine reaktionäre Forderung sei. Bloss: Möglicherweise entsteht eben in diesen Jahren ein solcher Kanon unter dem Banner der «Political Correctness». Die öffentliche Debatte um diesen ideologischen Kampfbegriff ist im Gang. Die Schwierigkeit ist, dass er von verschiedenen Seiten instrumentalisiert werden kann im Sinn von: Wer nicht meiner Meinung ist, redet politisch unkorrekt. Dass mit einer solchen Argumentation auch auf den Kanon der gemeinten Inhalte in der Kunst Einfluss genommen werden kann, scheint mir klar. Bloss: Wer nimmt Einfluss? Und auf welche Inhalte? Affaire à suivre.

(04.07.2018)

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