Aparte Musikkonversation

Zurzeit vertiefe ich die Recherchen im Zusammenhang mit den Hausabenden für zeitgenössische Musik, die das Ehepaar Hermann und Irène Gattiker-Lauterburg zwischen 1940 und 1967 in ihren Privaträumen in Bern veranstaltet hat.[1] Deshalb bat ich K. v. F., emeritierter Professor für Musikgeschichte, der bis zu seiner Übersiedlung nach Zürich 1957 die Hausabende häufig besucht hatte und zweimal als Pianist auftrat, um ein Gespräch.

Zusammen mit seiner Frau empfängt er mich am 7. Juli 1997 im 7. Stock des Burgerheims in Bern, wo er seit kurzem, von Zürich zurückgekehrt, wohnt. Mehr als ein Gespräch gewährt mir der 84jährige eine Privatvorlesung, die mir einen nützlichen Überblick über die Neue Musik in der Mitte des 20. Jahrhunderts gibt. Freimütig gesteht er mir gegen Schluss seiner Ausführungen, dass er zwar regelmässig über Neue Musik Vorlesungen abgehalten habe, jedoch nie weiter als bis 1970 gegangen sei: «Ich hatte einfach das Gefühl, jetzt sei ich als Musikhistoriker überfordert. Man kann seither die Musik nicht mehr einordnen. Früher hatte man schöne Möglichkeiten, die Strömungen zu gruppieren: Das ist expressionistisch, das ist mehr impressionistisch, das ist seriell und so weiter. Aber so geht das nicht mehr.»

Da spricht die Ratlosigkeit des Fachmanns vor der Ästhetik jener neusten Musikproduktion, die in den bildungsbürgerlichen Kulturinstitutionen zur Aufführung gebracht wird. Er wolle sich nicht zum Richter machen, aber seit alles möglich und also nichts mehr unmöglich sei, sei die aufgeführte neuste Musik «einfach ein wenig fad» geworden.

Alles tonale «terribles simplificateurs»? «Gerade dadurch», sagt v. F., «dass die Komponisten die Tonalität wenigstens als Dreiklangsmöglichkeit wieder haben – Dreiklänge sind nicht mehr verfemt –, wird die Musik halt zum Teil einfach billig. Man kann es eigentlich nur noch so beurteilen, glaube ich, dass man sagt: Das sind billige Mittel, das kann jeder. Vielleicht ist das ein Kriterium.» Am Ende seines Lebens sind dem Gelehrten die ästhetischen Messwerkzeuge aus der Hand genommen. In der Reduktion der Komplexität musikalischer Strukturen sieht er vor allem die intellektuelle und ästhetische Regression und ist hilflos. Mit dieser Entwicklung geht zwar nicht die Musik kaputt, aber es schwinden die im musikalischen Material objektivierten Distinktionsmöglichkeiten, die ihren modernen Tendenzen in diesem Jahrhundert innegewohnt haben.

Für das Exquisite und Elitäre der Neuen Musik von Schönberg über Scelsi bis zu Messiaen hat Frau v. F., die unser Gespräch auf einem Feldbett ruhend mitverfolgt und ab und zu die Ausführungen ihres Gatten ergänzt, ein eigenes Wort. Die Musik, die sie meint, ist «apart», à part eben, beiseite, abseits vom ordinären Musikbetrieb für die Massen – mag sein, vielleicht ist damit auch ein wenig «Apartheid» gemeint im Reiche der Kunst – für die Reichen in der Kunst.

Wieder einmal wird mir als ehemaligem Studenten an der Musikakademie Basel blitzartig der Sinn der engen Verknüpfung von Neuer Musik, Bildungsbürgerlichkeit und Reichtum klar, und warum die Geschichte aller Kunst so eng mit Grossindustriellen – Paul Sacher in Basel, Werner Reinhart in Winterthur, Max Wassmer in Bern – verknüpft ist: Je hermetischer das künstlerische Ereignis, desto grösser seine Exklusivität, also sein distinktiver Wert.

Natürlich ist beim Ehepaar v. F. nicht nur der Musikbegriff «apart»: Zwar hat er sich am Telefon mit «F.» gemeldet und im Gespräch gibt er sich gar als «Roten» und als «1968er» zu erkennen. Trotzdem fehlen während seiner Ausführungen weder die eingestreuten französischen Formulierungen noch die Substantivendungen auf «-ung» statt «-ig» («Usschtellung», statt «Usschtellig» resp. Usschtöuig»), wie es im aristokratischen Stadtberndeutsch eben bis heute gesprochen wird. Wirkungsvoll zur Betonung von Distinktion ist auch das Namedropping-Spielchen: «Schude – Sie kennen doch Schude? Nein? Aber das war doch der bedeutende Musikkritiker der NZZ» etc.

Und besonders wirksam war Frau v. F.s distinktive Intervention, kaum hatte ich mein billiges Tonbandgerät auf dem Tisch in Betrieb gesetzt und einige einleitende Sätze gesagt: Sie bat mich, etwas leiser zu sprechen, sie sei empfindlich auf den Ohren. Und ihr Gatte sekundierte sanft, ich hätte ein «sonores Organ», worunter eine proletarische Gelle zu verstehen ich mich in vorauseilendem Gehorsam sofort befleissigte. Im Laufe des Gesprächs ertappte ich mich dabei, dass ich das Wort «hocke» mit «sitze» ersetzte, weil ich weiss, dass «hocke» unter den Nobleren der Stadt Bern als ordinär gilt (im Oberaargau, wo ich herkomme, sagt kein Mensch «sitze»).

Als ich etwas später, nach allen Seiten freundlich grüssend, durch die Gänge des Burgerheims schritt und in den strahlenden Sommertag hinaustrat, konnte ich schon wieder lachen: als wäre das Ehepaar v. F. Bourdieus «feinen Unterschieden» entsprungen, dachte ich, und entsprang.

[1] «Vertiefen» deshalb, weil ich die Geschichte dieser Hausabende ein erstes Mal im Buch «Begerts letzte Lektion» (S. 136f.+269f.) skizziert hatte. Der Grund für diese vertiefende Recherche ab April 1997 ist mir nicht mehr klar – möglicherweise arbeitete ich im Auftrag der «Berner Zeitung». Tatsache ist, dass dort ein Jahr später, im April 1998, ein grösserer Bericht zum Thema erschienen ist (siehe hier). – Seither sind die Hausabende mit einer musikhistorischen Monografie aufgearbeitet worden, vgl.: Doris Lanz: Neue Musik in alten Mauern. Die «Gattiker-Hausabende für zeitgenössische Musik» – Eine Konzertgeschichte 1940-1967. Bern/Berlin u.a. (Peter Lang) 2006.

(9.7.1997; 15.+20.11.2017; 03.07.2018)

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