Imagepflege für die Brotverteiler. Ein Thesenspiel

1.

Kunst geht nicht nach Brot.[1] Kunstschaffende arbeiten nicht, um von ihrer Arbeit zu leben; sie versuchen, trotz ihrer Arbeit zu überleben. Mit ihrer Arbeit fordern sie nicht Geld, sondern eine andere Welt.

2.

Eine Kunst, die sich mit der Welt nicht versöhnt, ist eine Kunst ohne ökonomische Basis. Die ökonomische Basis von Kunst verteidigen heisst, für ihre Formen und Inhalte von vornherein den falschen Rahmen nicht nur in Kauf zu nehmen, sondern als Recht einzufordern.

3.

Auf die Erfahrung, dass kaum jemand von Kulturarbeit leben kann, folgt nicht Kleingewerbler-Gejammer (i. S. v.: Staat/Bank/Konzern, o unterstütze uns doch fleissiger, denn wir sind auch ein braves Gewerbe), sondern die Einsicht, dass Kunstproduktion als einzige Kulturarbeit, die sich über das, was ist und gilt, hinauswagt, immer gegen die gesellschaftlichen Bedingungen geleistet werden muss und dass die aktuelle Herrschaft – aus ihrer Sicht vollkommen zu Recht – Kunstproduktion zwar nie ganz verhindern, aber auch nie ernsthaft unterstützen wird (weil zu Ende gedachte künstlerische Arbeit immer ein anderes, ein mit der aktuellen Herrschaft Unvereinbares, meint und als Utopie gegen diese stellt).

4.

Kunst, die sich von staatlichen oder privaten Herrschaftsstrukturen unterstützen lässt, ist Kunst am Bau der herrschenden Verhältnisse, also – bestenfalls ambitioniertes – Kunsthandwerk.

5.

Kunst, die Lohn und Sozialleistungen fordert, ist als Kunst abzuschreiben, bevor sie sich ausgedrückt hat. Kunst, die Lohn und Sozialleistungen verweigert, findet höchstens trotzdem, also nicht unter allen Umständen, statt – und wenn sie stattfindet, dann wie jede Kunst mit dem Risiko, dass sie schlecht ist.

6.

Die Tatsache, dass es für die Kunst überall zu wenig Geld gibt, ist nicht mit gewerkschaftlichen Forderungen zu beseitigen: In Fragen der Kunst gibt es für solche Forderungen keinen Adressaten: Die Kunst kennt keine Arbeitgeberseite (im Gegensatz zum Kunsthandwerk). Der Staat? Er ist auf das aktuelle Kunstschaffen nicht im gleichen Sinn angewiesen wie die Arbeitgeberschaft auf die Arbeitnehmenden: Der Staat besitzt in den tradierten, beliebig reproduzierbaren Kunstprodukten längst genügend Repräsentationsobjekte – und etwas anderes kann er von der Kunst genau genommen sowieso nicht brauchen. Die Banken und Konzerne? Wer sich ihnen verdingt, macht sich zu ihrem Knecht – oder sagen wir es freundlich: zum Mitarbeitenden ihrer PR-Abteilungen –, ganz egal, wie er oder sie sich inhaltlich und formal von ihnen distanziert: Der Rahmen ist stärker. Wer im Rahmen einer Grossbank zu einer Revolution aufruft, macht Propaganda für die Bank, nicht für die Revolution.

7.

Nur Kunst, die nicht nach Brot geht, die im Gegenteil das Brot der Herrschaft verweigert, stellt diese Herrschaft in Frage. Nur jene Kunst kann Nein sagen, die es sich leistet, das Geld der Herrschaft zu verweigern. Getragen werden müsste eine solche Kunst wohl durch die Solidarität der Beherrschten. Aber zumeist haben die Behrrschten gerade andere Probleme. Darum hat sich radikale Kunst angewöhnt, von Luft und Liebe zu leben.

8.

Im Zeitalter des Sponsoring ist Kunst, die nach Brot geht, nie etwas anderes als Imagepflege jener, die das Brot verteilen.

9.

Kunst, die ich meine, findet als öffentliche nicht unter allen Umständen statt. Es gibt historische Situationen, in denen die einzig mögliche authentische Äusserung der Kunst ihr Nicht-Erscheinen ist. Stehen sich Form, Inhalt und Rahmen unversöhnlich gegenüber, findet Kunst als öffentliche nicht statt. Ein Schaden ist das erst, wenn sie deswegen nicht entsteht. Soweit es mein Metier betrifft: Texte müssen nicht veröffentlicht, sondern bloss geschrieben werden.

10.

Für Kunstschaffende ist Öffentlichkeit – oder was sie dafür halten – auch eine Droge. Anfällig auf die Sucht nach Publizität sind sie wegen des sozialen Defizits, in dem sie zuerst immer leben und arbeiten. Aber wer «Öffentlichkeit» nicht als seelsorgerische Ersatzinstitution in Anspruch nehmen, sondern darin künstlerische Vermittlungsarbeit leisten will, muss diese Sucht im Griff haben und sachlich analysieren können, wann Vermittlung möglich ist und wann nicht.

11.

«Wir» brauchen andere ästhetische Kriterien! Solange Kunst akrobatischer Perfektionsterror, gigantische Materialschlacht, gymnasiale Nullfehler-Musterschülerhaftigkeit bedeutet, solange sie unter ihrer rationalen Oberfläche – dem, was die Kunstproduktion zu sagen meint –, weiterhin die Werte Disziplin, Gehorsam, Unterwürfigkeit, Dankbarkeit, Strebsamkeit, Fleiss, kurzum: die Tugenden der Knechte tradiert, solange zementiert Kunst den Bau der herrschenden Verhältnisse.

12.

Paradoxerweise gilt die abhängig gehaltene Unvernunft des vollamtlichen Kunstschaffens als «vernünftig», weil sie sich stromlinienförmig zu den Ansprüchen von Herrschaft verhält: Die Vernunft des ehrenbaren Handwerks Kunstschaffen ist abhängige Unvernunft, die für den Kunstmarkt schräge Ware mit prekärem Gebrauchswert produziert. Als unvernünftig gilt der Gesellschaft bloss jene Kunst, die die Unabhängigkeit der Unvernunft verteidigt – und zwar nicht, weil sie als Kunst von vornherein schwieriger zu verstehen wäre als die andere, sondern weil sie sich nicht in den Dienst ihrer eigenen Vermarktung stellen will. Letztere Kunst ist die ehrlichere, weil sie nicht Unabhängigkeit von den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen simuliert, die das Entstehen von Kunst jederzeit objektiv bestimmen, sondern – notfalls um den Preis ihres Nichtvorhandenseins – ihre Abhängigkeit verweigert.

13.

Kunst ist in jeder Zeit das Menschgemässe, das aus Sicht der herrschenden Vernunft unnötig und störend ist. Sie ist deshalb in jeder gesellschaftlichen Formation dem von ihr ausgegrenzten Wahnsinn näher als der herrschenden Vernunft.

14.

Die Postulierung einer Kunst der unabhängigen Unvernunft gilt Herrschaft als ästhetikfremde Ideologie. Dabei ist umgekehrt die Annahme, der ästhetisch bedeutenden (das heisst auch: bedeutend gemachten) Kunst sei Ideologie fremd, ein unabdingbares Ideologem jeder Herrschaft. Auch die beste Kunst im Dienst der säkularen Herrschaft ist Wegwerfreligion fürs Volk.

[1] Zur Formulierung, von der ich vermutlich ausgegangen bin, vgl.: SSV [Hrsg.]: Literatur geht nach Brot. Die Geschichte des Schweizerischen Schriftsteller-Verbandes. Aarau/Frankfurt am Main/Salzburg (Verlag Sauerländer) 1987.

(04.05.1989 [Notizbuch 1989ff, S. 38-42], 04.07.1997, 14.+20.11.2017; 03.07.2018)

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