Wines Ischbärgschpitzli

Am 10. Mai 1989 hat im Kinosaal der Reitschule in Bern vor knapp hundert Leuten die fünfviertelstündige multimediale Performance für die Jugendbewegte Rösi Soussy-Stalder (1948-1982) stattgefunden unter dem von ihr stammenden Motto «wasser liebende neu rosen weinen (nicht) / von wasser lebende neu rosen kämpfen».

Der Schauspieler Max Rüdlinger hat – auf Video aufgezeichnet – im Stil des Nachrichtensprechers Max Gfeller, den er seinerzeit im Film «E Nacht lang Füürland» (1981) gespielt hat, biografische Fakten über Rösi verlesen – unter anderem jene, dass sie bei diesem Film zwar mitspielte, die entsprechenden Sequenzen von den Regisseuren Remo Legnazzi und Clemens Klopfenstein jedoch nicht verwendet worden seien. Meret Matter (Inszenierung und Textinterpretation), Daniel von Rüti (Inszenierung und Technik) und ich (Recherche und Treatment) haben das Ganze gemeinsam produziert.

Dass unsere Zusammenarbeit reibungslos klappte, hat vermutlich zwei Gründe: Einerseits ergänzten wir uns in unseren Fähigkeiten und akzeptierten die Kompetenz der anderen, andererseits haben wir offenbar ähnliche ästhetische Vorstellungen, das heisst: ein Bewusstsein von der Tatsache, dass der Rahmen Form und Inhalt dominiert (vgl. «Konvolut», S. 236). In der Tat war das Radikale an dieser Veranstaltung der Rahmen: Sie fand in jenem Kulturraum statt, den Rösi seinerzeit durch ihre Auseinandersetzung mit ihm und ihrer Anwesenheit in ihm kritisch akzeptiert hat: im damaligen AJZ. Die Einmaligkeit der Aufführung korrespondierte mit ihrer Tagebuchnotiz: «Dr Remo het gseit, i sig wines Ischbärgschpitzli, wo uftouchi u grad wider undertouchi.» Der Gratiseintritt symbolisierte die Unvereinbarkeit von Form und Inhalt mit dem herrschenden Rahmen der Geldwelt (ich sage «symbolisiert», weil am Schluss, wie bei jeder Veranstaltung in der Reitschule, eine Kollekte durchgeführt worden ist).

Selbstverständlich würde eine Mehrzahl der hiesigen Kulturbeflissenen diesen Rahmen-Aspekt als ausserästhetischen moralischen Fundamentalismus abtun. Ich würde auch nur insofern widersprechen, als ich diesen als «innerästhetisch» bezeichnen würde. Da es heute zum guten Ton «rationaler» Argumentation gehört, den eigenen moralischen Antrieb (es gibt keine politische und also auch keine kulturelle Handlung ohne moralischen Anteil) zu verdrängen und zu tabuisieren, ist die Debatte darüber sinnlos.

Ideologie und Ideologiekritik sind Waffen, mit denen ich versuchen kann, das Feindliche und Gefährliche zu entwurzeln, zu fällen; die Moral jedoch ist meine eigene Wurzel, ohne die ich falle, bevor ich meine Waffen brauchen kann. Kurzsichtigerweise verwerfen viele Linken die Moral als etwas Pfäffisch-Suspektes – und werden entweder unbewusste MoralistInnen mit dem durchrationalisierten Jargon der Politdogmen oder unmoralische ZynikerInnen. Dabei würde uns die Erkenntnis stärker machen, dass nicht die Moral, sondern ihre Zerstörung durch Entpolitisierung suspekt ist.

Nicht auszuschliessen, dass ich mit Rösi in diesem Punkt einig sein würde, wenn es sie noch gäbe.

(15.05.1989, 05.07.1997; 19.11.2017; 03.07.2018)

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